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Fußball in Italien:Ibrahimovic wird zum Helden im Italo-Western

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Der AC Mailand hübscht mit dem 4:2 gegen Ronaldos Juve eine zähe Saison auf - und erschwert damit die Revolutionspläne des Klubs: Denn wenn Ralf Rangnick käme, müssten Trainer Pioli, Manager Maldini und Ibrahimovic wohl weichen.

Von Oliver Meiler, Mailand/Rom

Manche Fußballspiele hätten Zuschauer verdient, echte, in einem vollen Stadion. Oder wenigstens falsche Chöre, Einspieler aus der Fernsehregie. Die sind nämlich, bei allem Respekt für die Kritiker, immer noch besser als dieser trübe Bolzplatz-Sound schnaufender Stars, viel zu lauter Torwärter und nicht immer scharfsinniger Trainer, die ihre Anweisungen in Dauerschleife auf den Platz brüllen. Viel Magie geht da flöten, und der Zauber ist ja auch in diesem Sport fast alles.

AC Mailand gegen Juventus Turin also, 31. Spieltag der noch unendlich langen Meisterschaft in der Serie A, Siebter gegen Erster - das war so ein Spiel: Es hätte Zuschauer verdient gehabt. Als die Akteure den Rasen betraten, lief über die Lautsprecher des leeren Giuseppe-Meazza-Stadions minutenlang Filmmusik von Ennio Morricone, dem eben erst verstorbenen Komponisten - als Hommage. Und als passender Einstieg, episch schwer.

Das Spiel hatte alles, sechs Tore in einer Halbzeit, der zweiten. Das erste davon war wirklich toll, von Adrien Rabiot, einem Franzosen in Diensten von Juventus, der bisher eher dadurch aufgefallen war, dass seine Mutter, die auch seine Managerin ist, ihn mit ihrem Verhandlungschaos in einem Zustand ständiger Konfusion zu halten scheint. Rabiot lief einfach los, 60 Meter mit dem Ball am Fuß, recht unwiderstehlich, düpierte dabei halb Mailand und beschloss sein Solo dann mit einem satten Schuss mit dem linken Fuß hoch ins rechte Eck. Man wird dieses Tor zum 1:0 für Turin wahrscheinlich in den Rückblicken zum Jahresende wiedersehen.

Es gab in diesem Spiel aber auch groteske Fehler von sonst unflapsigen Verteidigern, auch das bot Unterhaltung. Juve führte nach Zweidritteln des Spiels 2:0, auch Ronaldo hatte getroffen, wie fast immer seit dem Neustart. Juve wähnte sich als sicherer Sieger, ach was: als Meister schon, denn Lazio Rom, der müde gewordene Verfolger, hatte nur Stunden davor auch beim Abstiegskandidaten in Lecce verloren (1:2), zum dritten Mal schon in kurzer Folge. Turin wäre mit zehn Punkten an der Tabellenspitze entschwunden, uneinholbar, zumindest nach den allgemeinen Standards des menschlichen Ermessens. In den Lockdown hatte man mit Mühe einen Punkt Vorsprung vor Lazio gerettet. Aber zuletzt zeigte sich nun, dass die lange, prominent besetzte Spielerbank des Serienmeisters den Unterschied machte.

Doch dann fiel Juve einfach auseinander, von vorne bis hinten. Milan traf drei Mal in fünf Minuten, orchestriert von Zlatan Ibrahimovic, der mit 38 Jahren zwar nicht mehr viel und selten schnell läuft, aber die Mannschaft mit seiner baren Präsenz und einigen Turmmanövern elektrisiert. Das hehre Selbstverständnis des Schweden, der im Winter erst zurückkam nach Mailand, es wirkt wie ein Katalysator. Am Ende stand es 4:2, ein Duell wie aus einem Spaghettiwestern.

Der Bezahlsender DAZN, der die Begegnung übertrug, verzichtete auf falschen Stadion-Sound. Und so fühlte sich das vergnüglichste und verrückteste Spiel seit dem Restart der Serie A so steril an wie ein schlecht beleuchteter Peripheriekick von Amateuren. Die Meisterschaft aber, die ist jetzt noch ein bisschen offen. Bis zum Saisonende bleiben noch sieben Runden, und Juve (75 Punkte) und Lazio (68 Punkte) begegnen sich noch direkt. Am letzten Spieltag allerdings empfängt Juventus den AS Rom, und es gehört in die Kategorie des unbedingt Erwartbaren, dass sich die Gäste kein Bein ausreißen würden, sollte ein Beineausreißen dem ewigen Stadtrivalen Lazio den Titel bringen können.

In Mailand wiederum befeuert dieser Sieg des AC eine ganz andere Frage. Nimmt man die Debatten zum Gradmesser, die sich seit Monaten um die Personalie von Ralf Rangnick ranken, geht es mal wieder um alles. Um Revolution oder Stillstand. So jedenfalls pflegt es Milans Vereinsführung um den CEO Ivan Gazidis darzustellen. Der südafrikanische Manager mit griechischen Wurzeln, früher Boss beim FC Arsenal, leitet die Geschäfte für den New Yorker Hedgefonds Elliott Management, dem Milan seit einigen Jahren gehört. Und dieser Gazidis, der die meiste Zeit in London sitzt, eine Welt entfernt von der Fiebrigkeit des italienischen Fußballbetriebs, möchte Rangnick offenbar ganz unbedingt verpflichten. Als Manager im englischen Stil, Trainer und Bevollmächtigter fürs Personal, zuständig für alles eben. Als Revolutionsführer, von oben.

Dieser Tage titelte die Mailänder Gazzetta dello Sport mal wieder mit ihrer ganz eigenen Überzeugung auf der ersten Seite: "È fatta." - Es ist vollbracht! Milan hole den "Professore" von Red Bull definitiv für drei Jahre, und zwar als Technischen Direktor und Cheftrainer in Personalunion. Das ist zwar, Stand jetzt, eine falsche Behauptung, aber die große Zeitung glaubt dennoch, der Deal sei sicher. Als erste Dementi eintrafen, legte die Gazzetta trotzig nach: "Rangnick al lavoro." Er arbeite schon - an Staff und Kader. Einige Namen stellte das Blatt schon mal vor. Ob etwas dran ist an den Namen, ist aktuell gar nicht so wichtig.

Wäre Gazidis häufiger in Mailand, bekäme er mit, wie sich das Klima noch etwas stärker gegen seine Pläne wendet. Ein Wetterumsturz. Vor Juve hatte Milan schon den Zweiten, Lazio, geschlagen, auswärts, 3:0. Plötzlich findet man in Italien, dass der Coach Stefano Pioli, ein klassischer Wandertrainer der Mittelklasse, einen tollen Job mache. Als Pioli vorigen Herbst übernahm, stand der Traditionsklub trotz Großinvestitionen auf Platz 14, mit angerissenem Stolz, ein trauriges Relikt verflossener Glorie. Jetzt ist plötzlich die Europa League drin, "la piccola Europa", wie die Italiener die Schwester der Champions League nennen - das kleine Europa.

Pioli selbst sagt: "Das ist mein Milan." Er meint damit, dass seine Elf, in der auch der frühere Frankfurter Ante Rebic inzwischen Tore schießt, nun endlich so spiele, wie er sich das vorstelle. Brauche halt alles seine Zeit. Man kann das Zitat aber auch anders verstehen, direkter. Und nun soll bald alles aus sein - wegen RR von RB?

Auch "Ibra", der Routinier mit dem Touch von Glamour, wäre wohl weg, wenn Rangnick käme, und das ist trotz seines Alters keine Petitesse. Das Publikum liebt Ibrahimovic, sein prominenter Name entspricht dem Anspruch eines großen Vereins. "Ob ich in Mailand bleibe?", sagte er nach dem Sieg gegen Juve: "Ich habe noch einen Monat, um Spaß zu haben, danach geschehen Dinge, die man nicht kontrollieren kann." Alter sei nur eine Zahl, tönt der Stürmer: "Unsere Rivalen haben Glück. Wenn ich vom ersten Tag an gespielt hätte, hätte Milan den Scudetto gewonnen." Nun ja, seit Ibrahimovic weiß, wie gut die Masche der überdrehten Selbstverklärung in seinem Fall funktioniert, kokettiert er damit bei jedem Auftritt.

Doch mehr noch: Käme Rangnick, dann wäre wahrscheinlich auch Paolo Maldini weg, der amtierende technische Direktor, und das schmerzt die Seele der Milanisti vielleicht noch mehr als alle anderen drohenden Verwerfungen. Der Begriff Legende wird schnell bemüht im Fußball, Maldini aber ist tatsächlich Legende und Verkörperung des Milanismo. Sein Vater Cesare spielte für Milan und wurde später Trainer, er selbst spielte bis 40 immer für Milan, einer seiner Söhne spielt jetzt für Milan. Als man Paolo Maldini nun fragte, was aus ihm werde, sagte er: "Ich weiß nicht, ob es im Milan der Zukunft Platz gibt für mich. An meiner Verbindung zum Verein wird aber niemand zweifeln können."

Wahrscheinlich ist auch den Besitzern klar, dass Legenden die Banden zum Volk stärken, wie Identitätsstifter. Von Maldini aber heißt es, er wolle künftig nicht nur Botschafter sein, sondern Manager - keine Topfpflanze des Vereins, die man hinstellt, damit es schön aussieht. Er will etwas zu sagen haben dürfen. Doch wie soll das gehen, wenn der Neue, so der denn auch kommt, die zentrale Macht bei sich sammeln möchte? Es gehe ihm nicht ums Geld, hat Rangnick neulich gesagt - aber es gehe zentral um die Frage, ob er bei einer Aufgabe "gewissen Einfluss" habe, also nicht bloß aufs Coaching, sondern auch auf alle Transfers.

Maldini sagte von Rangnick einmal: "Er ist nicht der richtige Mann." Das hörte sich abschließend an: Er oder ich! Die Gazzetta glaubt bereits: "Mit Maldini ist es aus!"

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Quelle:
SZ vom 09.07.2020
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