Süddeutsche Zeitung

Jürgen Klopps Team:Die Walze Liverpool

Keine andere Elf auf dem Planeten variiert derzeit so clever und ruhig ihr Tempo. Und das, obwohl ihr Trainer diese Ruhe oft nicht ausstrahlt - und sogar Parallelen zu Boris Johnson aufweist.

Kommentar von Klaus Hoeltzenbein

Jetzt vermuten einige wohl schon, der Mann könne über Wasser gehen, und er werde es beweisen. Er werde in Kürze mal nicht das Flugzeug nehmen, nicht den Schnellzug, der die Insel weiterhin am Festland verankert, und auch nicht die Fähre von Dover nach Calais. Zur Einbremsung sei jedoch all jenen, die glauben, diesen Mann halte gar nichts mehr auf, das Folgende gesagt: Viele Gegner hat Jürgen Klopp 2019 geschafft, doch einen nicht - und das war mal nicht Pep Guardiola. Es war Boris Johnson, der beim Polit-Rugby notorisch Foul spielte, während Klopp für Europa zu werben versuchte. Eindringlich bezog der Deutsche seine Position: Er halte den Brexit für keine gute Idee; er könne die Ängste in Teilen der Bevölkerung nachvollziehen.

In der Hafen- und Kulturstadt Liverpool, in der sie in historisch gewachsener Opposition zu London stehen, fand Klopp bei nicht wenigen Gehör. Doch jetzt, da die Brexit-Hardliner gewonnen haben, geht es auch dort wieder mehr um Fußball. Und besonders um die Vollendung jener Herausforderung, der Klopp sich gestellt hatte, als er 2015 an der Anfield Road anheuerte. Den angekratzten Mythos der Reds, der Roten, sollte er auffrischen, und nun ist dieser 4:0-Sieg des FC Liverpool beim traditionellen Weihnachtsfußball in Leicester ein Signal, dass Klopps Werk kurz vor der Vollendung steht. Denn ein Baustein fehlt bekanntlich noch. Zwar hat Liverpool im Mai die Champions League gewonnen und im Dezember die nachrangige Klub-WM - aber englischer Meister, und das schmerzt, waren sie seit 1990 nicht mehr. Seither tauchen in dieser Liste Provinzklubs wie die Blackburn Rovers (1995) oder Leicester City (2016) auf, und immer mal wieder die Teams aus Manchester, jener Nachbarstadt, der ein Liverpudlian nicht einmal den Fünf-Uhr-Tee gönnt.

Die Perfektion verwundert ein wenig

Nun aber, da Halbzeit ist in der Premier League, sind Verfolger nur mit dem berühmten Fernrohr zu entdecken. Allenfalls notorische Nörgler verweisen darauf, dass Klopps Liverpool in der Vorsaison einen Vorsprung von sieben Punkten auf Guardiolas Manchester City verspielte. Souverän dosieren die Reds derzeit ihre Kräfte, ab und an fahren sie im Energiespargang, kommt es aber darauf an, wird nicht nur der gefürchtete Dreizack (Mané, Salah, Firmino), sondern das komplette Team zur Walze. Dann wird es spektakulär wie im Liverpool-Derby gegen den FC Everton (5:2) oder jetzt in Leicester, beim Überraschungszweiten. Keine andere Elf auf dem Planeten variiert derzeit so schwindelerregend das Tempo.

Die Perfektion verwundert ein wenig, denn so kühl und clever, wie seine Elf die Gangschaltung bedient, wirkt Klopp am Spielfeldrand gar nicht. Meist fletscht er dort die Zähne. Dabei heißt es doch, eine Mannschaft spiegele mit der Zeit zunehmend den Charakter ihres Trainers. Aber vermutlich ist sein Werk schon so weit fortgeschritten, dass Klopp es sich gestattet, auch bei den Fehlern im Detail den Wüterich zu geben. Zieht er seine Kappe, wirkt das Blondhaar zerzaust wie das von Brexit-Boris. Und vielleicht ist da ja doch eine Parallele: Beider Erfolgsgeheimnis liegt in einer demonstrativen, impulsiven Unberechenbarkeit, durch die ein Laden ständig unter Hochspannung bleibt.

Als jüngst Spekulationen aufkamen, Klopp könne nach Gewinn der Meisterschaft aus England zurückkehren, er könne Borussia Dortmund einen Vitalitätsschock verpassen, den FC Bayern animieren oder beim nächsten Betriebsunfall Joachim Löw beerben, folgte blitzartig die Kunde: keine Chance, vorzeitige Vertragsverlängerung bei den Reds bis 2024. Im stressigen Trainerjob, in dem sich vieles abnutzen kann, ist das eine sehr selbstgewisse Botschaft: Keine Sorge, in Liverpool wird's schon nicht langweilig - es bleibt dort alles unter Starkstrom.

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SZ vom 28.12.2019/dsz
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