Süddeutsche Zeitung

Judo-WM:"In einem japanischen Dojo schmeißt dich auch der Hausmeister"

  • Tokio muss sich vor Olympia 2020 mit einigen Problemen herumschlagen.
  • Doch die Judo-WM verdrängt diese Sorgen - der Kampfsport ist ein Symbol für Japans gutes Gewissen.
  • Bei der letzten WM vor Olympia gewinnt das Gastgeberland Medaillen und Sympathien.

Von Thomas Hahn, Tokio

Für Freunde ausführlicher Finalkämpfe konnte Shohei Ono nichts tun am Dienstagabend bei der Judo-WM. Er ist ein zupackender Ippon-Produzent aus Nara, er liebt die schnelle Entscheidung durch die höchste Wertung seines Sports, und so legte er Rustam Orujov aus Aserbaidschan beim Showdown der Gewichtsklasse bis 73 Kilo schon nach kurzem Einsatz aufs Kreuz. Shohei Ono, 27, Kämpfer im Team des Chemiekonzerns Asahi Kasei, Olympiasieger von 2016, blies kurz die Backen auf. Es war das dritte Gold für Japan bei den Heim-Titelkämpfen, und Ono war gerührt wie eine steinerne Shinto-Figur. Er sagte: "Ich bin nicht überrascht."

Seit Sonntag läuft die Judo-WM im Nippon Budokan von Tokio, und damit eine kleine große Sache für den nächsten Olympia-Gastgeber. Dass die Menschen der Metropole deshalb in rauschhafte Begeisterung verfallen, kann man nicht feststellen. Sie nehmen das Ereignis eher beiläufig wahr. Ab und zu fallen Ausländer in Teamklamotten auf, die vom U-Bahnhof Kudanshita Richtung Kitanomaru-Park gehen. Ums Budokan sind Buden aufgebaut, unter anderem ein Fanshop für Judoka-Bedarf. Und die Fahnen an den Straßen erzählen was ganz anderes: von der Rugby-WM, die am 20. September in Japan beginnt.

Trotzdem: Es ist eine bessere Woche für die Spielestadt von 2020, die sich in der öffentlichen Wahrnehmung zuletzt vor allem mit Problemen herumzuschlagen hatte: mit der sportlerfeindlichen Sommerhitze oder mit den vielen Pendlern, die beim Massenfest der Sportwelt zu täglichen Verkehrsinfarkten beitragen könnten. Im Budokan ist davon keine Rede.

Denn Judo ist so etwas wie ein Symbol für Japans gutes Gewissen. Der Erzieher und asiatische Olympia-Pionier Jigoro Kano (1860 bis 1938) hat den Sport einst aus dem Jiu-Jitsu entwickelt und damit ein Kampftechniksystem des Klügeren eingeführt, das heute auf der ganzen Welt als wertvolle Körperschule für alle Altersklassen gilt. Judo, auf Deutsch "der sanfte Weg", wirkt wie das Beispiel für japanische Umsicht, an dem sich die Machtpolitiker und Wirtschaftsantreiber des Landes oft eher nicht zu orientieren scheinen.

Bei der WM im Nippon Budokan ist jedenfalls ein Japan der Kraft und der weltläufigen Freundlichkeit zu erleben. Der glitzernde Kommerz des Landes, die anfechtbare Politik des erzkonservativen Regierungschefs Shinzo Abe, der eskalierte Streit mit dem Nachbarn Südkorea um die richtige Aufarbeitung der Kolonialzeit - alles wirkt hier wie fortgetragen vom zeitlosen Geist des Judo. In den Finalrunden sind die Ränge ordentlich besucht, die heimischen Athleten gewinnen Medaille um Medaille, und das Publikum weiß genau, wann es auch mal für die anderen klatschen muss. Die siegreichen Gäste wissen es zu schätzen. Daria Bilodid zum Beispiel, 18, schlank, groß, und trotz ihrer Jugend schon so etwas wie ein japanisches Trauma, holte am Sonntag ihren zweiten WM-Titel in der Klasse bis 48 Kilo gegen die klein gewachsene, verzweifelt angreifende Funa Tonaki und lobte anschließend das Fachwissen der japanischen Zuschauer: "Die Fans kennen sich wirklich aus."

Es ist die letzte WM vor den Spielen. In der ehrwürdigen Arena, die der Weltverband nach seinen Standards hat einrichten lassen, denken die Athletinnen und Athleten deshalb wahrscheinlich mehr an ihre persönlichen Ziele als an die Werte des seligen Kano. Es geht um Medaillen, Punkte für Olympia, Geld, auch unter dem geschwungenen Dach des Budokan. Und doch erinnern diese Meisterschaften daran, dass es so etwas wie Nachhaltigkeit im olympischen Sport geben kann. Das Budokan wurde für die ersten Olympischen Spiele in Tokio gebaut, 1964, um dann die vielgebuchte Kampfsportstätte zu werden, die sie heute ist. Judo hatte damals Premiere bei Olympia, die Japaner kümmerten sich selbst darum, dass ihr Sport über ihre Grenzen hinaus wuchs. Sie schickten Trainer zum Missionieren in die ganze Welt. Diese Einflüsse wirken bis heute.

"Alle haben eine Beziehung zu Japan", sagt Richard Trautmann, 50, deutscher Männer-Bundestrainer, Olympia-Dritter 1992 und '96. Zu seinen Athletenzeiten musste nach Japan, wer auf höchstem Niveau trainieren wollte. "Wenn ich alle meine Aufenthalte in Japan aneinanderhänge, komme ich locker auf drei Jahre meines Lebens", sagt er. Und immer noch steht Japan für das Land, in dem die feinste Technik zu erleben ist. Die Medien bringen mehr Baseball und Sumoringen. "Aber wenn Sie zehn Japaner auf der Straße ansprechen, haben fünf davon Judo gemacht", sagt Trautmann, "Minimum."

Judo ist in Japan eben auch ein erzieherisches Konzept, wird betrieben in Schulen und Universitäten, ehe die Besten als Sportangestellte zu Firmenteams wechseln. Und die Lehre stellt Perfektion über Abwechslung. "Nach dem japanischen Grundverständnis lernt ein Kind eine Technik, mit der man nach vorne angreift, und eine, mit der man nach hinten angreift", sagt Trautmann, "das machen die zwei Jahre. In der gleichen Zeit wird ein deutsches Kind mit zehn Techniken bespaßt - geht nicht anders, sonst hört es auf." Mentalitätsunterschiede. Den Japanern bringen sie ein technisches Grundniveau, das auch Normalsportler abrufen können. Trautmann sagt: "Wir machen immer den Witz: In einem japanischen Dojo schmeißt dich auch der Hausmeister."

Die Messe des sanften Kampfes dauert noch bis Sonntag. Japan erscheint im Spiegel seiner Sporttradition und gewinnt dabei nicht wenig. Medaillen, Sympathien, und die Baustellen des Landes scheinen weit weg zu sein. Im Budokan ist Nippons Welt in Ordnung.

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SZ vom 28.08.2019/tbr
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