Judo:Schulterwurf im Wohnzimmer

Theresa Stoll hätte bei Olympia um Medaillen gekämpft. Nun misst sie sich mit ihrer Mitbewohnerin: Zwillingsschwester Amelie, ebenfalls Judo-Profi.

Von Julian Ignatowitsch

Judoka Theresa Stoll macht in diesen Tagen alles das, wofür sie sonst meist keine Zeit hat: Sie sitzt auf ihrem Balkon, liest ein Buch, probiert neue Rezepte aus und streamt abends einen Film. Am Osterwochenende hat sie Karten gebastelt und Eier bemalt. "Solange wie jetzt war ich noch nie am Stück daheim, seit ich Judo-Profi bin", sagt sie. Wirklich freuen kann sie sich darüber aber nicht. Normalerweise hat sie eigentlich keine Freizeit, sondern verbringt gut die Hälfte des Jahres in fremden Städten auf der ganzen Welt: Tokio, Astana, Zagreb, Rio de Janeiro - das sind typische Reise- und Trainingsziele einer erfolgreichen Kämpferin. Und genau das würde sie jetzt gerne: kämpfen.

Stoll gehört in ihrer Gewichtsklasse bis 57 Kilogramm zu den Besten, sie hat in den vergangenen vier Jahren einen rasanten Aufstieg in die Weltspitze hingelegt mit EM-Silber und mehreren Grand-Prix-Siegen. Den Termin am 27. Juli 2020 musste sie aber nach der Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio aus dem Kalender streichen. "Das wäre mein Wettkampftag gewesen", weiß sie. Ihre ersten Sommerspiele überhaupt. "Als es dann offiziell verkündet wurde, war das schon sehr komisch", erinnert sie sich. Sie hat ein paar Tage gebraucht, um sich mit dem Gedanken abzufinden, dass ihr Traum (wohl) erst in einem Jahr in Erfüllung gehen wird. "Aber es war natürlich die richtige Entscheidung", fügt sie an. Stoll studiert Medizin, insofern hatte sie sich über die zögerliche Kommunikation von IOC-Präsident Thomas Bach ohnehin gewundert. Ursprünglich hatte die 24-Jährige für diesen Sommer ein Urlaubssemester geplant, jetzt gehen dann die Vorlesungen wieder los, auch für sie, online versteht sich. Durch das Coronavirus hat sich vieles geändert.

Judo: Es kann nur eine geben: Theresa (blau gekleidet) und Amelie Stoll werden niemals gemeinsam zu Olympischen Spielen reisen.

Es kann nur eine geben: Theresa (blau gekleidet) und Amelie Stoll werden niemals gemeinsam zu Olympischen Spielen reisen.

(Foto: Claus Schunk)

Eines bleibt für die junge Kämpferin aber trotz Ausgangssperre, Kontaktverbot und etwas mehr Freizeit bei weniger Reisestress gleich: Ihr Fokus liegt weiter voll auf den Sommerspielen und dem Judo, einer Kontaktsportart, bei der die Ansteckungsgefahr quasi immer mit im Ring steht und die von den Einschränkungen deshalb besonders betroffen ist. Entsprechend ist der Betrieb am Olympiastützpunkt München und beim TSV Großhadern, ihrem Heimatverein, auch ausgesetzt.

Doch Theresa Stoll hat Glück. Denn sie hat eine Zwillingsschwester, mit der sie zusammen wohnt und die ebenfalls Judo-Profi in derselben Gewichtsklasse ist: "Ich bin so froh, dass ich Amelie habe." Amelie Stoll hat die Qualifikation zu den Sommerspielen nicht geschafft, der Grund dafür ist ihre Schwester Theresa, momentan die Stärkere. Pro Land und Gewichtsklasse kann sich immer nur eine Athletin qualifizieren. Das macht die Olympiaqualifikation im Hause Stoll zum Schwesternduell.

Theresa Stoll und Amelie Stoll, 2017

Die Zwillingsschwestern Theresa (blaues Oberteil) und Amelie Stoll.

(Foto: Florian Peljak)

In diesen Tagen findet dieses Duell dann zu Trainingszwecken eben in den eigenen vier Wänden statt. Das WG-Wohnzimmer wird zum Dojo, also zum Kampfring. "Wir trainieren zweimal täglich", erzählt Theresa. Ein richtiges Kampftraining ist aber dennoch nur sehr begrenzt möglich, denn einerseits kennen sich die Zwillinge natürlich in- und auswendig und andere Sparringspartner fehlen, andererseits ist das Wohnzimmer kein gleichwertiger Ersatz zur professionellen Halle am Olympiastützpunkt. "Trotzdem tun wir, was wir können, und sind täglich im Austausch mit unserem Trainer", meint Stoll. Im Mittelpunkt stehen derzeit die Kraft- und Ausdauereinheiten. Ganz besonders gilt das für den zweiten bayerischen Spitzenjudoka Sebastian Seidl, der zuletzt immer wieder verletzt war und aktuell "mehr macht als jemals zuvor", wie er sagt. Vormittags zwei Stunden Hanteltraining, nachmittags 10 Kilometer Laufen: So nutzt Seidl die Zeit, um sich physisch wieder in Topform zu bringen. "Seit Ende Februar und dem Turnier in Düsseldorf habe ich keinen Judoanzug mehr angehabt", sagt er. Natürlich fehle ihm der Wettkampf auf der Matte und - beim aktuellen Pensum noch mehr - die Physiotherapie, aber er sehe die Situation mehr als Chance. Seidls Motivation ist groß. Bei den vergangenen Spielen 2016 schied er gleich in der ersten Runde aus. Die nächsten Spiele sollen seine letzten sein, bevor er sportlich in Rente und ganz zur Polizei geht. Anders als bei Stoll ist die Qualifikation bei ihm auch noch nicht sicher. Wenn wieder Turniere stattfinden, was frühestens im September sein wird, will er so schnell wie möglich die nötigen Punkte sammeln. Zwischenzeitlich muss er noch ein paar Wochen auf der Wache aushelfen, obwohl er größtenteils vom Dienst freigestellt ist.

Schätzungsweise einen Monat werden die besten Judoka wohl brauchen, um wieder in Wettkampfform zu kommen, meint Stützpunkttrainer Ralf Matusche, der eine einjährige Pause bis Februar 2021 für die "sauberste Lösung" im internationalen Judosport hält. Er sprach seinen Athleten von Beginn an Mut in der Krise zu: Die Pause sei keine Katastrophe, sondern notwendig. Niemand müsse um seine Existenz fürchten, denn sowohl die Sporthilfe als auch Polizei und Bundeswehr unterstützen ihre Olympiakandidaten nach wie vor vollumfänglich. "Eine schwere Verletzung, die quasi jeder Kampfsportler schon erlebt hat, ist sportlich ein viel schlimmerer Rückschlag", stellt Matusche klar. Nun seien außerdem alle Athleten gleichzeitig auf ähnliche Weise überall betroffen. Mögliche Vor- oder Nachteile sieht der Trainer da nicht. Wann und wie es genau weitergeht, kann - wie in so vielen Gesellschaftsbereichen - niemand sagen. Auch im Judo leben sie von Woche zu Woche. Nur so viel weiß Matusche aktuell: "Bei den Motivierten - da ist es ganz egal, wo sie trainieren."

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