Judo:Fit aus dem Wohnzimmer

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Theresa Stoll ist eine von 13 deutschen Judoka in Tokio. (Foto: Attila Kisbenedek/AFP)

Nach ihrem dritten Platz bei der Weltmeisterschaft fährt Theresa Stoll als Mitfavoritin zu den Olympischen Spielen. Dass sie so stark ist, liegt auch an ihrer Zwillingsschwester - und am Training während Corona.

Von Jonas Kraus, München

Eigentlich wollte Theresa Stoll nur ins Training gehen. Eine lockere Einheit sollte es werden, ein wenig an den Grundlagen arbeiten. Doch als sie am Montag zusammen mit ihrer Schwester Amelie in die Trainingshalle wollte, gab es kein Durchkommen mehr. Rund 50 Menschen erwarteten Stoll, klatschten und jubelten unter ihren FFP2-Masken. Kinder fragten nach Autogrammen und gemeinsamen Fotos. Nach kurzem Zögern stellte sich die Judokämpferin etwas schüchtern vor ein Banner mit ihrem Konterfei und ließ sich für ihren dritten Platz feiern, den sie bei der Weltmeisterschaft in Budapest vor einer Woche erkämpft hatte.

"Ich bin nicht die Person, die gerne im Mittelpunkt steht", sagte sie, als der Trubel sich gelegt hatte. Aber natürlich freue es sie, dass ihr Verein, der TSV Großhadern, sich eine solche Aktion ausgedacht hat. Nur ans Autogrammegeben habe sie sich noch nicht gewöhnt. Zwar hat sie Autogrammkarten, aber die sind nicht griffbereit. "Das passiert uns Judokas ja nicht so oft", gibt sie zu. Möglicherweise muss sich die 25-Jährige daran gewöhnen, dass ihre Unterschrift begehrt wird. Bei den Olympischen Spielen zählt sie in ihrer Gewichtsklasse (bis 57kg) zu den Favoritinnen.

Dass Theresa Stoll so erfolgreich ist, liegt auch an ihrer Zwillingschwester Amelie. Die entging dem Trubel, stand bei der Ehrung ihrer Schwester etwas im Abseits. "Damit kann ich gut leben", sagte sie. Auch Amelie Stoll ist Judoka auf Spitzenniveau. Bei der Weltmeisterschaft war sie im Teamwettkampf mit dabei.

"Theresa ist ein Kopfmensch": Das Jahr 2019 nagte an ihrem Selbstbewusstsein

In Tokio wird sie nicht kämpfen. Also zumindest nicht im Wettkampf, wenn es am 26. Juli um die Medaillen geht. Bei den Spielen darf jedes Land pro Gewichtsklasse nur einen Athleten benennen. Da Theresa und Amelie Stoll in derselben Gewichtsklasse kämpfen, wurde die Olympia-Nominierung zum familieninternen Wettstreit - mit dem besseren Ende für Theresa. Für Amelie bleibt in Japan die Rolle der Trainingspartnerin und Zuschauerin.

Verbittert, dass sie lediglich als Reisebegleitung eingeplant ist, sei sie nicht. "Ach was, das Thema Olympia ist lange durch." Die Nominierung fand bereits im vergangenen Jahr statt. "Theresa hat es auf jeden Fall verdient", findet Amelie. Früher kämpften beide auf ähnlichem Niveau, in den vergangenen Jahren aber machte Theresa den nächsten Schritt und hängte Amelie etwas ab.

Entzweien konnte das die Zwillinge nicht. Sie wohnen zusammen in der Nähe der Trainingshalle, stehen seit Kindestagen gemeinsam auf der Matte. Gehen gemeinsam zum Training. Als während der ersten Corona-Welle die Sportstätten geschlossen wurden, verlagerten sie ihr Training in die eigenen vier Wände. Das Wohnzimmer wurde zum Dojo. Bestmögliches Ersatztraining. Aber dennoch: "Die Wettkampf-Routine ging verloren", klagt Theresa Stoll.

Als Vollkontaktsport hatte es Judo während Corona schwer. Den ersten Wettkampf absolvierte Theresa Stoll deshalb erst wieder im November 2020. Zwar gewann sie gleich EM-Bronze. "So richtig gut in Form war ich aber nicht." Neun Monate ohne Wettkampf sind eine Ewigkeit für eine Leistungssportlerin, die es gewohnt ist, regelmäßig auf der ganzen Welt anzutreten.

Mittlerweile aber sei sie wieder in Topform. Und vielleicht besser als je zuvor. "Theresa war zwar nie eine zurückhaltende Kämpferin", sagt ihr Trainer Lorenz Trautmann, "aber manchmal war sie zu verkrampft." Vor allem 2019 sei etwas der Wurm drinnen gewesen, fünfmal wurde sie Fünfte. "Das hat am Selbstbewusstsein genagt", sagt Trautmann. "Theresa ist ein Kopfmensch."

"Sie strahlt viel mehr Selbstbewusstsein aus", stellt Trainer Lorenz Trautmann fest.

Das Corona-Jahr mit weniger Wettkämpfen, aber viel Training habe da gar nicht geschadet, meint der Trainer. Gemeinsam haben sie an vielen Kleinigkeiten gearbeitet, vor allem in Sachen Stabilität. Mittlerweile hätten es die Gegnerinnen deutlich schwerer, Stoll zu Fall zu bringen. Und gleichzeitig nutze sie selbst die Fehler der Gegnerinnen deutlich besser aus. "Sie strahlt viel mehr Selbstbewusstsein aus", stellt Trautmann fest. Bei der Weltmeisterschaft gelang ihr so der Sieg gegen die entthronte Weltmeisterin Christa Deguchi aus Kanada.

Trotz ihrer Erfolge kann sich Theresa Stoll nicht ausschließlich auf Judo konzentrieren. Die 25-Jährige studiert in München Medizin. Da brauche es ein gutes Zeitmanagement, sagt sie. Auch wenn die Vorlesungen und Seminare überwiegend online stattfinden, werde ihr nicht langweilig. Jetzt aber müsse das Studium ein wenig zurücktreten. Die kommenden Wochen sind durchorganisiert. Zwei Trainingslager, dann geht es nach Japan. 2008 hat sie mit ihrem Vater die Spiele im Fernsehen verfolgt und beschlossen: Da will ich auch mal hin. "Es gibt einfach nichts Größeres."

Vom olympischen Motto hält Theresa Stoll nicht viel. "Ich fahre da nicht hin, um nur dabei zu sein", versichert sie. Planbar sei freilich wenig. "Beim Judo entscheiden Millisekunden über Sieg und Niederlage." Eine falsche Entscheidung, und alles kann vorbei sein. Aber: Ein richtiger Griff zum perfekten Zeitpunkt, und der Kampf ist gewonnen. Möglicherweise braucht Theresa Stoll bald neue Autogrammkarten.

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