Süddeutsche Zeitung

EM 2021:Italiens neuer Pirlo

Jorginho, in seiner südamerikanischen Heimat Brasilien übersehen, hat sich unauffällig, aber effektiv zum Herzstück des italienischen Fußballs entwickelt. Zu verdanken hat er das alles seiner Mamma.

Von Oliver Meiler, Rom

Zur euphorischen Deutung des italienischen Kollektivs - mehr Kammerchor als Rockband - gehört die Maxime, dass keiner unersetzbar sei, dass sich jeder und niemand im Kader als Stammspieler fühlen dürfe. Doch das stimmt natürlich nicht ganz. Mindestens einer ist unverhandelbar, unauswechselbar - "intoccabile", sagen die Italiener, unantastbar: Jorge Luiz Frello Filho, besser bekannt als Jorginho oder "Jorgi", 29 Jahre alt, geboren und aufgewachsen im brasilianischen Imbituba mit sehr, sehr weit entfernten Ahnen aus dem Veneto, ist dermaßen garantiert gesetzt, dass die Zeitungen ihn bei der Präsentation der Aufstellungen oft gar nicht erwähnen.

Man nimmt ihn auch nicht sonderlich stark wahr in einem Spiel, zumindest nicht von bloßem Auge und schon gar nicht am Fernsehen, das nur den Ausschnitt des Spielfelds mit Ballpräsenz zeigt: Der Spielmacher der Azzurri, ihr defensiver Regisseur, ist quasi immer überall. Er läuft viel, kreuzt die Linien der Gegner, fängt Bälle in großer Zahl ab.

Nur im gegnerischen Strafraum sieht man ihn fast nie: Drei Mal nur in vier Spielen bei dieser EM hat Jorginho einen Ball im Sechzehner der Gegners berührt, insgesamt. Torschüsse? Null. Doch er diktiert das Spiel der Italiener aus der Tiefe, das Tempo, die Wege. Und er redet und brüllt dabei so viel, dass sie ihn "Radio Jorginho" nennen, ständig auf Sendung. "Ich rede tatsächlich immer", sagt er. "Auf meiner Position sehe ich ja auch alles." Am Ende des Spiels ist die Stimme weg.

Seine Trainer lieben ihn für dieses intuitive Verständnis dafür, wohin das Spiel gleich wogen wird und wie es sich verlagern lässt. Thomas Tuchel beim FC Chelsea hat mit Jorginho und dem Franzosen N'Golo Kanté im Mittelfeld gerade die Champions League gewonnen. Italiens Nationaltrainer Roberto Mancini wägt auf jeder Position im Mittelfeld seine Optionen ab: Marco Verratti oder Manuel Locatelli? Nicolò Barella oder Matteo Pessina? Nur bei seiner Nummer "8", die auf der Sechs spielt, schwankt er nie.

Die Zeitungen sehen in ihm den "neuen Maestro", einen zweiten Pirlo

Die Gazzetta dello Sport titelte neulich: "Der neue Maestro". Und das ist ein Zentnertitel, die Anlehnung an eine Legende, vielleicht eine Übertreibung. Der alte Maestro war nämlich Andrea Pirlo. Jorginho hat nicht dessen strahlende Klasse, nicht dessen langen, samtenen Pass. Jorginho spielt oft kurze, sichere Bälle, nicht selten quer - er ist ein Architekt des Minimalismus. Aber die Spielintelligenz ist dieselbe wie bei Pirlo.

Es gibt Experten in Italien, die den unscheinbaren Jorginho in diesem Jahr als möglichen Kandidaten für den Ballon d'Or handeln, den weltbesten Fußballer 2021. Zumal dann, wenn Italien am Freitagabend im Viertelfinale in München Belgien bezwingen sollte. Da werden gleich mehrere Rivalen für die Einzeltrophäe zu bestaunen sein - und die Franzosen sind mit ihren Sternen ja schon früh verglüht.

Gewännen die Azzurri gar den Titel, stünde Jorginho mit den zwei größten Trophäen des Jahres da, unübersehbar. Natürlich gäbe das ein Naserümpfen unter den Fans, man hängt ja dem Spektakel nach, den Toren und den Tricks. Die Experten aber würden frohlocken.

Jorges Mutter Maria Teresa war eine gute Fußballerin

"Wenn ich heute Fußballer bin, verdanke ich das ganz meiner Mutter", sagt Jorginho oft, und das ist für ein Mal keine rituelle Danksagung. Als Jorge aufwuchs, war seine Mutter Maria Teresa Fußballerin, eine gute dazu. Im Netz gibt es Beweisfilme, in einem neueren Video sieht man die beiden gemeinsam jonglieren.

Der Kleine stand am Spielfeldrand, schaute zu und schaute ihr auch einiges ab. "Junge, du hast zwei Füße, spiel mit beiden", sagte die Mutter, sie war sein erster Coach. Mit 13 nahm ihn ein Verein aus einer Stadt unter Vertrag, die 180 Kilometer von Imbituba entfernt liegt. Der Weg war gezeichnet, es sollte ein langer werden.

Mit 15 zog er nach Italien. Ein italienischer Unternehmer, der zwischen den Welten pendelte, empfahl ihn dem Sportdirektor von Hellas Verona. Der Klub war damals nur drittklassig, Serie C, und hatte gerade einen Besitzerwechsel hinter sich. Jorginho kam in einem Kloster der Stadt unter, einen Vertrag hatte er nicht, er musste mit 50 Euro pro Woche durchkommen. Dass er es jemals schaffen würde, galt als abenteuerliche Wette. Technisch war er hochtalentiert, doch er war dünn, ein Blatt im Wind: In den italienischen Nachwuchsabteilungen setzen sie auf robuste junge Männer. Jorge telefonierte oft mit zu Hause, er wollte heim, die Mutter sagte: "Bleib dort!"

Über Verona und Neapel kam er nach Chelsea. Dort ist er Stammstammstammspieler

Früher träumte er davon, der neue Ronaldinho oder der neue Kaká zu werden: Herrschaften mit kreativer Fantasie, Zehner, Galeriespieler. Doch seine ersten Trainer staffelten ihn zurück, und so studierte Jorginho die Bewegungen von Xavi Hernández und Pirlo, seinen neuen Vorbildern.

Der Rest ist Geschichte und Glorie. Jorginho legte körperlich zu, gab sein Debüt für Verona in der Serie B. Nach drei Jahren wechselte er zum Wunder-Napoli von Maurizio Sarri, das tatsächlich beinahe italienischer Meister geworden wäre mit seinem schnellen, leichten Spiel. Sarri nahm Jorginho dann nach London mit, als er Trainer von Chelsea wurde - als Stammstammstammspieler, unverzichtbar.

In Brasilien aber sah man die Entwicklung nicht kommen, was ja kein Wunder ist bei dem Großgeschwirre im nationalen Talentschuppen. Casemiro von Real Madrid spielt den Part, den Jorginho für die brasilianische Nationalmannschaft hätte geben können. Und so besann sich der Muttersohn darauf, dass sein Vater, der die Familie früh verließ, Vorfahren aus Santa Caterina di Lusiana Conco in der Provinz Vicenza hatte - einen Urururgroßvater, vielleicht ist es sogar ein "Ur-" mehr. In solchen Fällen geht die Einbürgerung in Italien immer schnell. Bürokratie? Ein Spaziergang.

In Mancinis Team gibt es noch zwei weitere eingebürgerte Brasilianer

Jorginho ist also ein "Oriundo", das Wort kommt ursprünglich vom lateinischen Verb oriri, geboren werden. Im Gerundium und umgangssprachlich sind mit Oriundi Menschen gemeint, die in einem Land leben, das nicht die Heimat ihrer Vorfahren ist - Nachfahren von Emigranten also. Und da Italien früher einmal ein klassisches Emigrationsland war, soll es in der Welt mittlerweile 80 Millionen Oriundi mit italienischer Vorgeschichte geben. Viele von ihnen leben in Südamerika, der Talentkammer des Fußballs.

Und sie sind durchaus verwendbar, die ruhmreichen Annalen der italienischen Vereine zeugen davon. Die bekanntesten Oriundi unter den Nationalspielern Italiens waren wohl José Altafini aus Brasilien, Antonio Angelillo und Omar Sívori aus Argentinien. Viele Länderspiele absolvierten die nicht, doch ihren Namen hörte man die Italianità an.

Bei Jorge Luiz Frello Filho ist das natürlich etwas anders. In Mancinis Team gibt es noch zwei weitere eingebürgerte Brasilianer: Emerson Palmieri vom FC Chelsea und Rafael Toloi von Atalanta Bergamo. Das Zeug zum wirklich memorablen Oriundo hat aber gerade nur Jorginho, auch die nationalistischen Kritiker sind längst verstummt.

Wenn die Nationalhymne erklinge, sagt Jorginho, flössen jeweils alle Erinnerungen aus der Jugend durch sein Herz. Die Zeit im Kloster der Mönche, wehmütig am Telefon mit der Mutter, die ihn vom Ausharren überzeugte. Darum singe er die Hymne mit der schönen Zeile "Fratelli d'Italia", Brüder Italiens, nun umso ergriffener und dankbarer. Ein echter Fratello d'Italia.

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