Süddeutsche Zeitung

Beinahe-Weltrekord von Johannes Vetter:Nahe an der Perfektion

Speerwerfer Johannes Vetter gelingt mit 97,76 Metern ein phänomenaler Wurf. In einem Jahr des Stillstands rebelliert er mit immer weiteren Versuchen - eine OP und Tüftelei an der Technik machen sich bezahlt.

Von Johannes Knuth

Wenn er loslegt, wirkt das immer wie ein Ritt auf der Klinge, als presche ein Büffel über einen schmalen Kletterpfad im Hochgebirge. Anlauf, Stemmschritt, Abwurf, Bauchklatscher - beim Speerwerfer Johannes Vetter fließt das alles so dynamisch ineinander, dass er seinen Körper oft erst Millimeter vor der Abwurflinie zum Abbremsen bringt. Aber das alles, sagte Vetter am Sonntagabend, nach seinem denkwürdigen Auftritt beim Meeting in Chorzow/Polen, gehorche einer klaren Choreografie: "Beim Speerwurf braucht man den ganzen Körper", und wenn ein Speerwerfer einen guten Wurf erwischt hat, dann spüre er auch "die ganze Energie dahinter, vom rechten Zeh über die Brust bis zu den Händen". Am Sonntag, der Speer war noch nicht gelandet nach Vetters drittem Versuch, da wusste er schon: "dass es ein riesiger Wurf war".

Wie riesig, sah man spätestens, als sein Speer am anderen Ende des Feldes einschlug, bei 97,76 Metern und knapp neben der Kugelstoßanlage. Das beschwor natürlich sofort Erinnerungen an den Brandenburger Uwe Hohn herauf, der 1984 mit seinen 104,80 Metern beinahe die Athleten auf der anderen Stadionseite aufgespießt hatte. Kurz darauf wurde ein Speer mit verändertem Schwerpunkt eingeführt, und mit diesem hat bislang nur ein Mensch weiter geworfen als Johannes Vetter von der LG Offenburg am Sonntagabend: der Tscheche Jan Zelezny, der mit seinen 98,48 Metern vor 24 Jahren in Jena einen der mittlerweile ältesten Weltrekorde der Leichtathletik aufstellte.

Das muss man auch erst mal schaffen: In einem Jahr, in dem alles im Zeichen einer pandemiebedingten Entschleunigung steht, rebelliert Vetter so sehr gegen den Stillstand, dass es allmählich fast unheimlich wirkt. Als Ende Juli die verspätete Saison anbrach, wurde er in Braunschweig mit 87,36 Metern deutscher Meister, bald folgten 91,49 Meter in Turku - und jetzt dieser Knaller in Polen. Vetter strich damit seinen bisherigen deutschen Rekord (94,44) aus den Statistikbüchern; weltweit war in diesem Jahr auch noch niemand besser, klar. Ohne die Tribünen in Chorzow, die den möglicherweise vorteilhaften Wind zurückgehalten hatten, hätte es sogar dreistellig vor dem Komma werden können, sagte Vetter. Dreistellig?

Wenn man am Tag danach Boris Obergföll fragt, Vetters Coach und Bundestrainer in Personalunion, dann meint man eine stille Zufriedenheit zu hören - und leises Staunen darüber, wie schnell das alles ging: Im Frühjahr habe Vetter noch gekämpft, im Training 80 Meter zu übertreffen. Wobei man damals "schon viel umgestellt" habe, wie bei einer Maschine, die man auseinanderschraubt und nach leicht verändertem Bauplan wieder zusammensetzt. Vetter hatte zuvor zwei Jahre "um den Schmerz herumgeworfen", ein freier Gelenkkörper im Stemmbein machte ihm bei fast jedem Wurf zu schaffen. Erst eine Operation nach der WM im vergangenen Herbst in Doha habe Linderung verschafft. Vetter war dort noch Dritter geworden.

Kräfte von einer Tonne wirken auf das Stemmbein

Von April bis Juli habe man die Auszeit also genutzt, um die Technik neu aufzuspielen, damit Vetters rohe Kräfte wieder sinnvoll walten. Obergföll taucht jetzt in die Theorie ein, spricht von Fußaufsätzen und linken und rechten Winkeln, ehe er das Ganze in einen schönen Vergleich kleidet. Ein Speerwerfer baue binnen einer Sekunde eine gewaltige Spannung auf, wie ein menschgewordener Bogen. Im Optimalfall setze er dabei sein völlig gestrecktes Stemmbein auf, während die Energie durch den Körper fließt, bis zum Abwurf. Auf das Stemmbein wirken dabei schon mal Kräfte von einer Tonne, und wenn das Bein in dieser Phase nur ein bisschen einknickt, verpufft diese Energie - wie bei einem Bogen, der nicht ganz gespannt ist. In den vergangenen Jahren, sagt Obergföll, habe Vetter oft nur ein Drittel der nötigen Spannkraft aufbauen können, am Sonntag war er nahe an der Perfektion. Dafür habe man viel an besagten Fußaufsätzen und Winkeln getüftelt, "auch viele Diskussionen geführt, es hat auch mal geknallt", erinnert sich Obergföll. Aber man habe sich immer wieder zusammengerauft.

Reibung kann eben auch Energie freisetzen. Vetter ("ich bin eher der Haudrauf-Typ") wirkt jedenfalls wie ein Mann auf einer Mission, seitdem Form und Technik frisch aufgespielt sind. "Ich hätte mich ja auch auf die faule Haut legen können", sagte er zuletzt über diese merkwürdige Saison, die von jeglichen Großereignissen befreit worden ist: "Aber ich will weiter hart arbeiten und den Leuten zeigen, was ich draufhabe." Und: "Dass man mit so einer Situation ganz anders klarkommt, als wenn man nur den Kopf in den Sand steckt." Er glaubt sogar, dass es im besten Fall noch etwas weiter gehen kann, vielleicht schon beim Saisonausstand demnächst in Dessau und Berlin.

Vielleicht aber auch nicht. Auch sein Trainer ist da lieber etwas zurückhaltender. Speerwurf sei, wie alles im Sport, "immer auch eine Momentaufnahme", sagt Obergföll. Mal bläst der Wind wieder aus einem blöden Winkel, dann ist der Belag zu rutschig, und natürlich schleppt Vetter jetzt auch diese bleischweren Erwartungen hinter sich her: dass es tatsächlich bald was werden könnte mit den 100 Metern. Ein bisschen Vorsicht dient ja auch der Glaubwürdigkeit, zumal in Zeiten, in denen das Doping-Kontrollsystem just von März bis Mai auch in Deutschland fast völlig brachlag, was man freilich schwer den Athleten anlasten kann. Man müsse jedenfalls abwarten, wie das kommende Olympiajahr anlaufe, sagt Obergföll. Wobei der Haudrauf Vetter "auch ein bisschen älter und reifer geworden" sei, was die Belastungssteuerung angehe. An der mangelnden Wettkampfpraxis in diesem Jahr dürfte es jedenfalls nicht scheitern.

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Quelle:
SZ vom 08.09.2020/ska
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