Wenn sich Leidenschaft und Können vereinen, sieht das aus wie bei Johannes Thingnes Bö. Samstagnachmittag in Lenzerheide, der Norweger fährt im Sprint gerade zum zweiten Mal zum Schießstand und weiß: Wenn er jetzt noch einmal alle Scheiben versenkt, ist er einem neuen Eintrag in die Geschichtsbücher des Biathlons sehr nah. Also auf Nummer sicher gehen? Nicht die Art von Bö.
Kaum legt er los, fallen schon die Scheiben: Eins, zwei, drei, vier, fünf, im Publikum ein Raunen: 19,8 Sekunden, mehr Zeit braucht Bö nicht, um seinen großen Triumph zu sichern.

Biathlon-WM:Die Last von zehn Jahren von den Schultern geworfen
Franziska Preuß erfüllt mit Silber im Sprint gleich im ersten Einzelrennen der Biathlon-WM die großen Erwartungen. Über eine, die viel verlieren musste, um zu gewinnen.
Zwei tadellose Schießeinlagen, Bestzeit dazu auf der Loipe: Beim WM-Sprint in Lenzerheide hat sich Johannes Thingnes Bö seine 21. WM-Goldmedaille gesichert, und das bedeutete: Er hatte genau eine Medaille mehr errungen als Ole Einar Björndalen, sein Vorgänger und Landsmann. „Das ist sehr emotional für mich“, sagte Bö, als er seine Ski abgeschnallt hatte und vor dem ZDF-Mikrofon stand: „Es war ein wichtiges Ziel, das zu schaffen.“
Noch zu schaffen konnte man ergänzen: Bö hatte vor ein paar Wochen für alle überraschend angekündigt, dass diese Weltmeisterschaft seine letzte werden würde, er hört zum Saisonende auf. Nur ein Jahr vor den Olympischen Winterspielen. Es war ein Schock für die Biathlonszene.
Für Norwegen ist diese WM erstaunlich schwach gestartet - doch auf Bö ist Verlass
Viele Tränen hat der 31-Jährige bei der Rücktrittsankündigung zuletzt beim Weltcup in Ruhpolding vergossen, denn natürlich lebt seine Leidenschaft für den Sport noch. Aber die Opfer, die er dafür erbringen muss, sind ihm mittlerweile zu groß geworden: wenn er immer wieder wochenlang ins Trainingslager verschwinden muss, verbunden mit einer wochenlangen Trennung von der Familie mit seinen zwei Kindern. Sich ganz vorne zu behaupten, ist Bö in diesem Jahr dann auch schwerer gefallen als in den Jahren zuvor: Vier Mal hat er seit 2019 den Gesamtweltcup gewonnen, nach einer Krankheitsphase um die Weihnachtszeit und einem schwächeren Januar hatte ihn in Sturla Holm Laegreid ein Konkurrent aus dem eigenen Team zuletzt überholt.
Nicht so allerdings beim Sprint am Samstag. Da leistete sich Laegreid einen Fehler am Schießstand und war läuferisch fast 40 Sekunden hinter Bö zurück. Silber sicherte sich überraschend der US-Amerikaner Campbell Wright vor Quentin Fillon Maillet aus Frankreich. Bester Deutscher wurde Philipp Nawrath auf Rang 18.

Um sich auf seine letzte WM vorzubereiten, zog sich Bö zurück und trainierte allein. Sein Programm: „Lange Skieinheiten, guter Schlaf, gutes Essen. Ich war mein eigener Chef, es ging darum, die richtige Balance zu finden“, sagte er. Ein Rezept, das aufging, das spürte Bö auch vor diesem Rennen: „Ich war wirklich entspannt und bereit, alles zu geben.“ Für Norwegen ist diese WM erstaunlich schwach gestartet: In der Mixed-Staffel verpasste das Team trotz zweier Strafrunden knapp den Bronzerang hinter der deutschen Staffel, im Sprint der Frauen schaffte es keine Norwegerin aufs Podium. Doch auf Bö war Verlass.
Für die Konkurrenz wird es ohne Bö leichter werden, um Titel mitzukämpfen
„Sprint ist das härteste Rennen, dort zu gewinnen, ist am schwierigsten“, sagte Johannes Thingnes Bö nach der Siegerehrung im Pressezentrum neben der Arena, umringt von etlichen Aufnahmegeräten. Und dann sagte er auch das: „Ich genieße es, als wäre es mein letzter Sieg. Vielleicht mein letzter überhaupt.“ Das war wohl ein bisschen Understatement, schließlich standen noch bis zu fünf Starts in Lenzerheide an, je nach Staffelaufstellung.
Björndalen, der mittlerweile fürs norwegische Fernsehen arbeitet, wohnte dem Erfolg von Bö in Lenzerheide bei und nahm es gelassen hin, nun überholt worden zu sein. „Das ist eigentlich nicht so schlimm. Ich hatte das erwartet. Er ist eine Legende, unter Druck ist er fantastisch“, sagte der 51-Jährige im ZDF. Beide pflegen ein respektvolles Verhältnis, wissen sie doch, wie wichtig sie für die Popularität ihres Sports sind. „Er ist immer noch ein Vorbild für alle, die Biathlon gucken“, sagte Bö später über Björndalen. „Ich habe immer Unterstützung erfahren von dem König persönlich.“
Aber Bös Rekordjagd war da noch gar nicht beendet: Eine weitere Goldmedaille in einem Einzelrennen fehlte ihm noch, um Björndalen eine weitere Bestmarke abzuknöpfen: Beide standen bei elf Weltmeistertiteln im Einzel. Und Bö nutzte am Sonntag in der Verfolgung gleich die erste Gelegenheit, um sich mit seinem 22. Gold auch noch diesen Rekord zu schnappen.
Für die Konkurrenz wird es ohne Bö leichter werden, um Titel mitzukämpfen, und doch sind diese Abschiedstage von Lenzerheide auch bei ihnen mit Wehmut verbunden. „Wenn man gegen die Bö-Brüder läuft und gewinnt, weiß man, auf welchem Niveau man das geschafft hat“, sagte Quentin Fillon Maillet. Biathlon wird ohne Johannes Thingnes Bö ein anderer Sport werden, so empfinden das viele. Aber um Norwegen muss man sich keine Sorgen machen: Unter den besten Zehn des WM-Sprints am Samstag standen am Ende sechs Norweger.