Süddeutsche Zeitung

Johan Cruyff:Revolutionär ohne Diplom

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Als Spieler, Trainer und Polemiker hat der Niederländer den Weltfußball auf grandiose Wiese bereichert. Seine nun veröffentlichte Autobiografie ist weniger berauschend.

Von Javier Cáceres

Dieser Tage war Jordi Cruyff im spanischen Sender Onda Cero zu Gast, und er wurde gefragt, was für ihn das Rührendste gewesen sei bei der Beschäftigung mit der soeben posthum veröffentlichten Autobiografie seines Vaters Johan? "Die Stimme meines Vaters zu hören", antwortete Jordi Cruyff. Der Ghostwriter, der niederländische Journalist Jaap de Groot, habe ihm auch jene Tonbänder zur Verfügung gestellt, die die Grundlage für das in Deutschland unter dem Titel "Johan Cruyff. Mein Spiel" (Droemer Verlag) erschienene Buch waren. Da sei es ihm kalt den Rücken heruntergelaufen, berichtete Sohn Jordi.

Wer ihn je sprechen hörte, weiß, dass Johan Cruyff einen besonderen Sound hatte. Und das war nicht nur eine Stimme, die man vermisst, seit Cruyff Ende März 2016 an einem Krebsleiden verstarb. "Wo immer ich gearbeitet habe, wollte ich, dass die Menschen über Fußball nachdachten und darüber sprachen, am liebsten den ganzen Tag lang", schreibt Cruyff nun - im Wissen, dass er, der grandiose Meister fußballerischer Aphorismen, genau das sein Leben lang gemacht hatte. Manchmal hatten seine Worte erst dadurch ihre ganze Wucht entfaltet; Cruyff konnte zwar drei Sprachen sprechen, aber keine davon richtig.

Cruyff hat den Fußball revolutioniert. Als Spieler, als Trainer, als Funktionär, als Kolumnist, als Polemiker - in Amsterdam und mehr noch beim FC Barcelona. "Ich bin ein Mensch ohne Diplome", lautet der erste Satz des Buches, das genau deshalb ein wenig glatt wirkt. Glatter jedenfalls als das vielleicht beste Cruyff-Buch, das bislang erschienen ist, 2002 brachte es Cruyff selbst mit dem katalanischen Schriftsteller Sergi Pàmies zu Papier: "Me gusta el fútbol".

Cruyff war einer dieser Menschen, die eine unnachahmliche infantile Verschmitztheit ins Alter retten konnten; das, was sie einst in jungen Jahren auf der Straße gelernt oder vererbt bekommen hatten. Sein früh verstorbener Vater, erzählt Cruyff, habe ein Glasauge gehabt und immer wieder mit den Leuten gewettet, wer am längsten in die Sonne gucken konnte: "Dann legte er seine Hand auf das gesunde Auge, blickte eine Minute in die Sonne und schnappte sich die Geldstücke." Das ist Cruyff in Reinform und gibt seinem berühmten Spruch, dass der Einäugige unter den Blinden zwar König sei, "aber doch ein Einäugiger bleibt", eine charmante, familiäre Fußnote.

Das Buch ist kein Feuerwerk an Enthüllungen. An diversen Stellen ist es eine Abrechnung, das schon. Doch die Schilderung der bis in die Gegenwart reichenden Machtkämpfe bei Cruyffs niederländischem Stammverein Ajax Amsterdam ist in ihren Verästelungen nur insofern von Gewinn, weil sie den Vereinsmenschen Cruyff porträtiert.

Nicht von ungefähr lässt Cruyff erkennen, wie sehr er den FC Bayern dafür bewundert, dass er von früheren Top-Spielern geleitet wird, die ihm in gewissen Dingen ähneln. Denn man denkt unweigerlich an die blindlings geleisteten Unterschriften eines Franz Beckenbauer im WM-Skandal 2006, wenn Cruyff schildert, dass er 2008, nach dem Tod seines Schwiegervaters und Managers, "keine Ahnung" hatte, ob er für das Geld, das auf seinem Konto lag, Zinsen bekam oder etwas bezahlen musste.

Rinus Michels hätte einst lieber Gerd Müller als Cruyff zum FC Barcelona gelenkt

Gleichwohl sind einige wenige Perlen im Buch zu finden, zum Beispiel zur Genese des "Totaalvoetbal", dem totalen Fußball der Holländer aus den Siebzigern: "Es war eine Philosophie, die recht simpel war und es bis zum heutigen Tage eigentlich geblieben ist. Es gibt einen Ball, und den haben entweder wir oder die anderen. Solange wir in Ballbesitz sind, können die anderen kein Tor schießen." Es gibt auch lehrreiche, anschauliche Ausschweifungen zu dem, was daraus für das Positions- und Passspiel folgte.

1974 kamen die Niederländer bis ins WM-Finale, das sie gegen Deutschland 1:2 verloren: "Bis auf die Deutschen war so ziemlich jeder überzeugt davon, dass eigentlich wir hätten gewinnen müssen", schreibt Cruyff. Die Geschichte, wonach das Endspiel von München wegen einer "Räuberpistole" (Cruyff) der Bild-Zeitung verloren wurde, leugnet er vehement. Seinerzeit veröffentlichte das Boulevardblatt eine Geschichte über eine Pool-Party der Holländer mit reichlich Frauen. Der Legende zufolge musste Cruyff seine Frau vor dem Finale in einem nachtlangen Telefonat besänftigen: "Völliger Unsinn", schreibt er, "Danny hielt sich damals in unserem zweiten Wohnsitz in den Bergen bei Andorra auf, einem Ort, zu dem es keine Telefonverbindung gab. Wir konnten daher unter gar keinen Umständen Kontakt miteinander haben."

Interessant sind die immer wieder aufscheinenden Reibereien mit der ebenfalls verstorbenen niederländischen Trainer-Legende Rinus Michels, der ihm mal die Beine massierte, mal aber auch seiner Karriere im Weg stand. Cruyff trug Michels bis zuletzt nach, dass er 1990 seine Berufung zum niederländischen Bondscoach verhinderte - angeblich aus Neid. Fast hätte er auch Fußballgeschichte verhindert, denn Cruyff zufolge drängte Michels 1974 darauf, Gerd Müller vom FC Bayern nach Barcelona zu holen - anstelle von Cruyff, der dort dann den Nährboden für seine Ideen fand.

Nichts von dem, was heute den FC Barcelona ausmacht, wäre ohne Johan Cruyff denkbar. Weil er als Spieler eine Legende war, konnte er dort Trainer werden, den Verkauf des schmächtigen Spielers Pep Guardiola verhindern. Cruyff konnte Ideen säen, die mittlerweile seit Jahren blühen, die Verpflichtung von Trainern wie Rijkaard und Guardiola forcieren, die sein Erbe fortführten. Barça sei "ein Verein, der symbolisch für eine einzigartige Philosophie im Fußball steht", sagt Cruyff. Und meint: seine eigene Philosophie, die berauschender und umfassender ist als seine Autobiografie.

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Quelle:
SZ vom 15.10.2016
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