Selbst manch kundiger Beobachter war wohl etwas überrascht von der Nachricht, die am Wochenende aus dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) drang. Der bisherige Präsident Jürgen Kessing tritt ein Jahr vor dem Ende seiner Amtszeit ab. Dafür folgt in Jochen Schweitzer ein neuer Chef, der jetzt nicht mehr Präsident, sondern Aufsichtsratsvorsitzender heißt. Schweitzer wiederum wurde bei einer Mitgliederversammlung in Dresden mit einem Traumergebnis inthronisiert: 100 Prozent Zustimmung, in geheimer Wahl. Auch Schweitzers neues Team an Aufsichtsräten wurde geschlossen gewählt. Klingt ein bisschen nach nordkoreanischem Parteitagsergebnis – ist aber tatsächlich ein spannender Vorgang in einem Verband, der seit Jahren versucht, wieder auf das Gleis des Erfolgs zu rollen.
In einem Fachverband wie dem DLV spiegelt sich immer auch die komplizierte deutsche Sportförderlandschaft, und die jüngsten Entscheidungen von Dresden sind nun der nächste Versuch, dieses Geflecht etwas zu entwirren. All die ständigen Konferenzen, Kommissionen und Vertreter, die im Verband vor sich hinarbeiten, sollen künftig in einem Verbandsausschuss gebündelt werden. Dieser wird künftig von zwei Präsidenten der Landesverbände geführt, von Uwe Schünemann aus Niedersachsen und Andreas Broska aus Sachsen-Anhalt. Der Ausschuss soll Grundsatzfragen behandeln und Leitplanken setzen, innerhalb derer der hauptamtliche DLV-Vorstand die deutsche Leichtathletik voranbringen soll. Das operative Geschäft liegt ja bereits seit drei Jahren fast gänzlich in den Händen dieses hauptamtlichen Vorstands um den Vorsitzenden Idriss Gonschinska. Das folgt einem grundsätzlichen Rat, den der deutsche Sport seinen Fachverbänden erteilt hat: mehr Hauptamt, mehr Professionalität, wie in einem Wirtschaftsunternehmen, so zumindest das Kalkül.
DLV-Präsident Jürgen Kessing kandidierte nicht mehr für den neuen Aufsichtsrat
Dem ehrenamtlichen Präsidium war in diesem Geflecht schon seit 2021 eher eine Wächterrolle zugekommen. Diese soll das Gremium nun als Aufsichtsrat ausüben, wie ein Schiedsrichter, der prüft, ob alle Ausschüsse und Vorstände auch das tun, was sie tun sollen – und der den Vorstand abberufen und neu bestellen kann. Manche Mitglieder fanden die Art, wie diese Reform zuletzt aufgegleist wurde, dem Vernehmen nach etwas undurchsichtig, sie hätten sich etwa eine öffentliche Ausschreibung gewünscht. Allerdings hätte zumindest Kessing als bisheriger Präsident auch für den neuen Aufsichtsrat kandidieren können. Dies blieb aus, „aufgrund seiner beruflichen Verpflichtungen als Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen sowie der Mitgliedschaft in zahlreichen weiteren Aufsichtsräten“, wie der DLV mitteilte (seinen Sitz im Rat des Europa-Verband behält Kessing allerdings). Von den „eigenen Spuren“, die Kessing im DLV hinterlassen wollte, wie er zu Amtsantritt versprochen hatte, war von außen bis zuletzt jedenfalls nicht viel zu spüren.

Das wird sich mit Schweitzer gewiss ändern. Der 41-Jährige, Konrektor einer Realschule in Erding, mag noch kein starkes Profil in der Öffentlichkeit haben, in der Leichtathletik hat er kaum ein Amt ausgelassen. Er hat einen Verein geführt (LG Stadtwerke München), einen Bezirk (Oberbayern), war bis zuletzt Vizepräsident im bayerischen Verband und im DLV für Finanzen und Wirtschaft; er fuhr zu Nachwuchskaderlehrgängen wie zu internationalen Kongressen. „Ich habe Ämter nie um des Amtes willen übernommen“, sagt Schweitzer, „sondern immer mit der Maxime: Was kann ich für meine Sportart tun, zum Positiven verändern?“ Die 100 Prozent Zustimmung, das bestätigen Insider, kann man wahrhaftig als Anerkennung für seine bisherigen Verdienste verstehen. Gleichwohl sei die Wahl nun ein „großer Vertrauensvorschuss“, sagt Schweitzer; die kommenden Aufgaben sind kolossal größer.
Schweitzers Konjunkturprogramm, das er am Wochenende auch in Dresden vortrug, klingt stimmig: Keine Gehaltsobergrenzen mehr für Trainer; die Leichtathletik verstärkt in Nestern fördern, für jeden Athleten die beste, individuelle Lösung finden; Stärkung der Meetings; bessere Verzahnung von DLV und Landesverbänden, denen die Nachwuchsförderung obliegt.
Neu ist das alles freilich nicht. Und Schweitzer weiß, dass vieles nur zur Vollendung reifen kann, wenn der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und der Bund mitspielen. Wenn das neue Sportfördergesetz den Fachverbänden etwa erlaubt, über Fördergelder freier zu verfügen. „Da muss dem organisierten Sport mehr Vertrauen geschenkt werden“, sagt Schweitzer. Zugleich richtet er eine Botschaft nach innen: „Wir haben nur eine Chance, wenn wir uns alle wirklich aufeinander verlassen können und uns eng über unsere Arbeit austauschen. Das ist ein Projekt von Leichtathletikdeutschland, nicht von einigen wenigen. Ich bin immer Teamplayer gewesen und lege wirklich Wert darauf, dass wir auch künftig so verfahren.“
In der Hinsicht war zuletzt ja ein wenig Luft nach oben.
Schweitzer kann enorm aufs Tempo drücken, aber verglichen mit seinen bisherigen Stationen lenkt er nun keine Schnellboote mehr, sondern steht bei einem Tanker auf der Kommandobrücke. Da sind Kurskorrekturen für gewöhnlich erst Jahre später spürbar. Andererseits ist Schweitzer auch in der Politik, vor allem in der bayerischen, bestens verdrahtet, wie auch in der internationalen Leichtathletik bis hinauf zum Weltverband. So ist es womöglich kein völliger Zufall, dass sich Münchens Stadtrat schon zu Jahresbeginn hinter dem Ansinnen versammelte, die Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2029 oder 2031 zu beherbergen. Auch der DLV hat nun in Dresden offiziell seine Absicht formuliert. „Man muss für die kommenden Spitzenathleten, die man jetzt ausbildet, ein Leuchtturmprojekt haben, als Motivation“, findet Schweitzer. An Letzterer mangelt es ihm gewiss nicht.