Bundestrainer Löw vor Nordirland-Spiel:Zurück zur Agenda 2010

  • Bundestrainer Joachim Löw steht mit der deutschen Nationalelf vor einer schweren Aufgabe.
  • In der EM-Qualifikation muss ein Sieg in Nordirland her - gleichzeitig sucht seine Elf noch ihren Stil.

Von Christof Kneer, Hamburg

Da stand er nun, der echte Heiko Westermann, mittendrin in jenem Hamburger Stadion, in dem er so viele Jahre Wunder vollbracht hat. Westermann, 36, hat es während seiner Karriere immer wieder auf bemerkenswerte Art geschafft, besser zu sein, als die Summe seiner Fähigkeiten das eigentlich erlaubte. Westermann wurde Nationalspieler und hielt es fünf Jahre beim HSV aus, beides muss man erst mal schaffen.

Inzwischen ist er beim berühmten Deutschen Fußball-Bund angestellt, wenn auch in eher unberühmter Funktion als Co-Trainer der U 15-Junioren. In der Halbzeit des EM-Qualifikationsspiels gegen die Niederlande stand Westermann da also im Mittelkreis und trug eine kleine Halbzeitanalyse vor. Wenn man ihn richtig verstanden hat, dann sagte er, dass ihn der defensive Ansatz der DFB-Elf überrasche, dass sich das in der zweiten Hälfte aber bestimmt ändern werde.

Es folgte eine zweite Hälfte, in der sich nicht nur der Bundestrainer die umgekehrte Westermann-Frage stellte: Spielte diese deutsche Nationalelf da unten schlechter, als es die Summe ihrer Fähigkeiten eigentlich erlauben würde? Oder sind diese Fähigkeiten vielleicht gar nicht so hoch?

Für Joachim Löw, den Bundestrainer, war das ein aufwühlender Abend, und dass ihn später niemand mit einer Beruhigungszigarette erwischte, lag daran, dass Löw gerade so lange nicht mehr raucht, bis er wieder anfängt. Ja, Löw wollte das so, er wollte nach der missratenen WM weitermachen und an einer neuen Mannschaft arbeiten - wie viel Arbeit das aber tatsächlich bedeutet, hat er womöglich erst nach diesem 2:4 gegen die Niederlande wirklich begriffen.

Natürlich kann man dieses Spiel auch als Summe unglücklicher Umstände begreifen. Ja, Löws Mannschaft hätte auch 2:0 in Führung gehen können, und dann hätte die Fachwelt diesen Bundestrainer vermutlich hochleben lassen für seinen Mut, alte Muster zu durchbrechen - tatsächlich hatte der Spanien-Verherrlicher Löw ja eine Spielweise in Auftrag gegeben, die ihn eher als Anhänger von Hertha BSC (unter Pal Dardai) auswies.

Die deutsche Nationalelf, von Löw über ein Jahrzehnt streng auf den Besitz des Balles abgerichtet, überließ diesen Ball plötzlich kampflos dem Gegner und richtete es sich in der eigenen Hälfte gemütlich ein. Nur manchmal verließ sie die heimische Couch, um dem Gegner einen kurzen, aber sehr effektiven Besuch abzustatten - wie beim Führungstor, das Serge Gnabry (9.) nach exzellenter Vorarbeit von Joshua Kimmich erzielte.

Neue Taktik, neue Muster? Ja, vielleicht. Ob es aber die richtige Taktik und das richtige Muster ist, das weiß Jogi Löw ein Dreivierteljahr vor der Europameisterschaft jetzt immer noch nicht.

Das war die bedenkliche Botschaft dieses Spiels: Löw weiß nach diesem 2:4 nicht nur nicht, wie gut seine neue Mannschaft wirklich ist, wie sie unter Stress reagiert und ob Klostermann oder Schulz tatsächlich turniertauglich sind. Was er vor allem nicht weiß: welcher Stil zu dieser Elf passt. Soll er sie wirklich vorwiegend kontern lassen, weil seine irre schnellen Angreifer Serge Gnabry, Timo Werner, Marco Reus und Leroy Sané (wenn er wieder fit ist) sich für diese Systematik so gut eignen?

Oder soll er doch wieder den Ball ins Zentrum aller Überlegungen stellen, weil er sonst die Qualitäten von Toni Kroos und Ilkay Gündogan verschenkt? Oder wäre eine Mischung ganz cool, eine Art Best-of aus beiden Welten? Aber hat er genügend Zeit, das einzuüben, mitten im laufenden Qualifikationsbetrieb und bei den wenigen Malen, die er seine Spieler um sich versammelt?

Erinnerungen an Südafrika

Am Tag vor dem Spiel gegen die Niederlande ist Löw kurz nostalgisch geworden, die vielen jungen Menschen in seinem Aufgebot haben ihn ein wenig an 2010 erinnert, so sagte er das. Im Sommer 2010 war Löw mit vielen jungen Menschen zur WM nach Südafrika gereist, wo die DFB-Elf zu einer Art länderübergreifenden Lieblingsmannschaft wurde.

Sie stand für die Integration von Migrationshintergrundfußballern wie Khedira, Özil und Boateng, und sie stand für einen rockigen Konterfußball, den man von einer deutschen Elf lange nicht mehr gesehen hatte. Aus dem Sommer 2010 entwickelte sich jener Weltmeister-Zyklus, in dessen Verlauf die DFB-Elf immer besser und dominanter wurde und dementsprechend immer weniger konterte - und nun, da dieser Zyklus zu Ende ist, hofft der Bundestrainer beim Neubeginn in seiner eigenen Vita fündig zu werden.

Löw will, dass es im Jahr 2020 wieder 2010 ist. Er will mit seinen vielen jungen Menschen wieder einen direkten und uneitlen Fußball spielen, der sich markant unterscheiden soll vom saturierten Pseudo-Dominanzgehabe, mit dem seine Weltmeister im vorigen Sommer bei der WM in Russland aus der Zeit gefallen sind. Löws Wunsch ist schwer in Ordnung, aber das 2:4 von Hamburg hat ihm auch die Unterschiede zu 2010 vor Augen geführt.

Zwar starteten Müller, Khedira, Boateng oder Neuer damals auch nur mit einer Handvoll Länderspielen ins Turnier, aber sie wurden getragen von der Generation "60 Länderspiele plus", von Vollprofis wie Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Miroslav Klose, Per Mertesacker und sogar Lukas Podolski, die alle wussten, wie ein Turnier funktioniert. Löws aktuelle Achse besteht dagegen aus Manuel Neuer und Toni Kroos - die Klasse der Rest-Mannschaft ist zwar erkennbar, aber noch sehr unzuverlässig.

Löws neue Nationalelf hat hohes Potenzial, aber sie ist in etwa so fertig wie der Berliner Flughafen. Das heißt auch, dass Löw nun mehr gefordert ist, als ihm lieb sein kann: Er muss für diese Elf einen neuen, tauglichen Spielstil finden, er muss sie enger führen, und er muss auch im Spiel aktiver coachen, als das für gewöhnlich seine Art ist. Ein neuer Zyklus, das weiß Jogi Löw spätestens seit diesem 2:4, beginnt nicht von selbst.

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