Süddeutsche Zeitung

Jérôme Boateng:Die Minuten acht bis zehn

Eine frühe rote Karte für den Münchner Abwehrspieler erweist sich als Wegweiser für ein denkwürdiges Spiel mit gravierenden Folgen.

Von Johannes Aumüller, Frankfurt

Es ist in diesem Augenblick bezeichnend, in das Gesicht von Trainer Niko Kovac zu sehen. Auch interessant ist der Blick in die Gesichter von Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge und allen anderen, die irgendetwas mit dem FC Bayern zu tun haben. Aber vielleicht ist für die Bedeutung dieses Momentes etwas anderes am bezeichnendsten: die Reaktion der Fans von Eintracht Frankfurt. Die beginnen lautstark zu jubeln, obwohl der Schiedsrichter ihrer Mannschaft gerade einen schon zugesprochenen Elfmeter wieder entzieht.

Im Fußball dokumentieren sich Siege, Niederlagen und Krisen oft in einem Moment. Und an jenem denkwürdigen Samstag in Frankfurt ist es zweifellos der Vorgang aus den Minuten acht bis zehn, der sich als Wegweiser fürs Spiel erweist; für die Zuspitzung der Trainerfrage bei den Bayern bis hin zur Entlassung von Kovac am späten Sonntagabend - genauso wie für dieses "Riesenerlebnis" für Frankfurt, wie es Trainer Adi Hütter nennt.

Die Szene also: Frankfurts Angreifer Goncalo Paciencia dribbelt sich durch, Boateng foult ihn an der Strafraumgrenze. Schiedsrichter Schmidt gibt Strafstoß und Gelb für Boateng, weil der zwar der sogenannte letzte Mann war, aber die berüchtigte "Doppelbestrafung" (Elfmeter und Platzverweis) seit einer Regelmodifizierung in solchen Aktionen nicht mehr in jedem Fall gilt. Dann meldet sich der Videoassistent aus Köln; das Foul sei knapp vor dem Strafraum erfolgt, Schmidt korrigiert: Statt Elfmeter und Gelb gibt es Freistoß und Rot für Boateng wegen Notbremse. Und nicht nur Frankfurts Trainer Hütter war später der Meinung, dass dies für seine Elf die bessere Kombination war. Lieber 80 Minuten in Überzahl spielen, anstatt bei Gleichzahl 1:0 in Führung gehen können.

Aber so wegweisend dieser Moment war, so sehr sollte es schon auch möglich sein, dass der FC Bayern einen frühen Platzverweis verkraftet und trotzdem nicht eins zu fünf verliert. "Es ist schwierig zu sagen, dass es nur an der roten Karte lag", sagte auch Trainer Kovac nach der Partie, und es war in der Tat irritierend, wie die Münchner auftraten.

Torwart Manuel Neuer hielt zwar noch ein paar Bälle und verhinderte eine noch höhere Niederlage. Angreifer Robert Lewandowski wiederum schoss nach einer famosen Einzelleistung gegen gleich drei Frankfurter Gegenspieler das zwischenzeitliche 1:2 (37.) und setzte auch am zehnten Spieltag seine Serie fort, in jeder Bundesligapartie dieser Saison mindestens ein Tor geschossen zu haben. Aber insgesamt war bei den Münchnern nicht zu erkennen, dass sie sich wirklich aufbäumen würden gegen die Dramaturgie dieses Nachmittages. Dafür gab es jede Menge Abspiel- und Abwehrfehler zu sehen und großzügigen Platz für die Gegner.

"Auch mit einem Mann weniger darf man hier nicht 1:5 verlieren", sagte Kovac. Und bei der Frage, wie er die vielen Fehlpässe verhindern wolle, wandte er sich fast schon resignativ klingend an seinen Nebenmann: "Vielleicht sollte ich mal den Adi fragen, ob er ein Rezept hat." Kovac selbst wiederum musste sich vorhalten lassen, dass er trotz der Unterzahlsituation seine Künstler Coutinho und Thiago auf dem Platz gelassen hat, statt etwa den baskischen Wellenbrecher Javier Martinez zu bringen. Es sei ihm eben um Ballbesitz gegangen, sagte Kovac dazu.

Aber dass dieses Spiel mit diesem Resultat endete, hatte auch ein bisschen mit Frankfurt zu tun. Denn es war durchaus beeindruckend, wie die SGE agierte - wobei sich Torwart Frederik Rönnow sogar zu der These hinreißen ließ, "dass wir ihnen auch in voller Stärke Probleme bereitet hätten". Läuferisch und kämpferisch braucht den Frankfurtern in der Regel ohnehin niemand etwas zu erklären. Aber diesmal ging es nach vorne nicht nur schnell und zielstrebig, sondern auch mit teils sehr guten Kombinationen. Daraus entstanden die Tore von Filip Kostic (25.), Djibril Sow (33.) und David Abraham (49.); zum 4:1 von Martin Hinteregger führte eine einstudierte Eckballvariante (61.) und zum abschließenden 5:1 von Paciencia (85.) ein tolles Dribbling von Zugang André Silva.

"Gefühlt ist das Team spielstärker als im letzten Jahr", sagte Kostic. Das klingt verblüffend, weil doch die drei Topstürmer Luka Jovic, Ante Rebic und Sébastien Haller im Sommer gingen, aber ganz unrecht hat Kostic damit nicht. Nur als die Frage aufkam, ob die Eintracht mit dieser Qualität nicht auch ganz oben mitspielen könne, gab sich Adi Hütter trotz dieses besonderen Tages ganz nüchtern. "Wir können uns sehr realistisch einschätzen", sagte der Trainer.

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Quelle:
SZ vom 04.11.2019
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