Deutsche Abwehr beim EM-Auftakt:Spuren von Panik

Deutsche Abwehr beim EM-Auftakt: Jérôme Boateng kann quasi alles: Auch Jahrhundertrettungen wie diese gegen die Ukraine.

Jérôme Boateng kann quasi alles: Auch Jahrhundertrettungen wie diese gegen die Ukraine.

(Foto: AP)
  • Die deutsche Nationalelf erlebt gegen die Ukraine Erschütterungen in der Abwehr.
  • Das könnte eine Folge der Personalwechsel oder genereller Befindlichkeiten sein.
  • Zum Glück gibt es noch Jérôme Boateng, der hinten aufräumt.

Von Philipp Selldorf, Lille

Engländer sind ja, wenn es um Fußball geht, sehr begeisterungsfähig. Hält der Torwart mit einer Flugparade einen Ball, dann schwärmen die Engländer von einem "fantastic save", obwohl der Opa des Torwarts den Ball auch ohne Flugparade gehalten hätte. Schießt jemand ein Tor, das nicht gerade ein elendes Abstaubertor war, dann ruft der Engländer ergriffen aus, es sei ein "brilliant goal" gewesen.

Lenkt ein Verteidiger mit einer billigen Grätsche den Ball ins Aus, dann stehen die Leute im Stadion auf und applaudieren, als ob sie Zeugen einer Heldentat gewesen wären. Und zwingt ein Angreifer den Gegenspieler zum Rettungseinsatz auf Kosten eines Eckballs oder Einwurfs, dann geraten die Leute auf den Tribünen in wilde Ekstase und meinen das auch ganz ernst.

26,57 Millionen TV-Zuschauer

EM-Auftakt-Rekordquote für die ARD: 26,57 Millionen Zuschauer sahen am Sonntag die Live-Übertragung im Ersten vom ersten EM-Gruppenspiel der deutschen Nationalmannschaft, die in Lille 2:0 gegen die Ukraine gewann. Der Marktanteil betrug 68,5 Prozent. Laut meedia.de wurden die Quoten für die deutschen Auftaktspiele bei den vergangenen EM-Turnieren deutlich übertroffen.

2008 Deutschland - Polen (23,82 Millionen)

2004 Deutschland - Niederlande (23,57 Millionen)

2012 Deutschland - Portugal (22,38 Millionen)

SID

Am Sonntagabend kurz vor Mitternacht marschierte nun, groß und mächtig, Jérôme Boateng durch die Tiefen des Stadions Pierre Mauroy in Lille. Fast hatte er den Ausgang erreicht, da sprach ihn ein englischer Reporter an, um ihm außer ein paar Fragen allerhand Komplimente aufzunötigen.

Boatengs Action-Nummer

Unter anderem erkundigte er sich, ob Boatengs Action-Nummer gegen Ende der ersten Halbzeit, als er den Ball mit einer eingesprungenen Yoga-Figur des höchsten Schwierigkeitsgrades von der Torlinie beförderte - ob diese fantastische und brillante Tat das beste Klärungsmanöver seines 27-jährigen Lebens gewesen sei. Vermutlich sah der englische Reporter schon die Schlagzeile auf der rückwärtigen Aufmacherseite vor sich: ,Exclusive! Boateng reveals: "My best clearing ever"!'

Und in der Tat: Hätte Boateng nicht im letzten Moment dieses besonders knifflige Problem gelöst, dann hätten die Deutschen zu einem unguten Zeitpunkt den Ausgleich hinnehmen müssen. Wie sie das verkraftet hätten?

Dank Boateng brauchte Joachim Löw darüber nicht mehr nachzudenken, später durfte er stattdessen befriedigt hervorheben, dass dieser 2:0-Sieg gegen die Ukraine auf konzertierter Besserung im Laufe der 90 Minuten beruhte, während Sami Khedira routiniert von einem "typischen Auftaktspiel" berichtete, das seine Mannschaft halt typischerweise gewonnen habe. Der Nächste bitte. Man konnte glauben, Khedira befinde sich mit Juventus Turin im Ligabetrieb und blickte auf das Treffen mit Frosinone zurück.

Noch ohne Gegentor

Joachim Löw hat seine makellose Bilanz mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft in Turnier-Auftaktspielen auf fünf Siege mit 13:0 Toren ausgebaut. (Als Co-Trainer von Jürgen Klinsmann gab es für Löw 2006 ein 4:2 gegen Costa Rica.)

EM 2008 Deutschland - Polen 2:0

WM 2010 Deutschland - Australien 4:0

EM 2012 Deutschland - Portugal 1:0

WM 2014 Deutschland - Portugal 4:0

EM 2016 Deutschland - Ukraine 2:0

Boateng hatte seinen Mitspielern ein Stück Gelassenheit beim Start ins EM-Turnier verschafft, aber er wollte deshalb weder eine Rekordleistung verkünden noch als Retter des Abends gefeiert werden. Den englischen Reporter verwies er wahrheitsgemäß auf ein paar ähnlich grandiose Momente während der WM in Brasilien und auf den natürlichen Bonus seiner Anatomie: "Manchmal bin ich schon froh, dass ich so lange Beine habe." Die Information, dass er nicht nur der Akteur dieser Glanztat war, sondern auch deren Verursacher, behielt der Münchner Verteidiger lieber für sich.

Er hatte ja mit einem verunglückten Zuspiel den ukrainischen Angriff ermöglicht, und er war es, der den eigentlich aufs Aus zusteuernden, halbhohen Querpass im Versuch der Klärung beinahe ins eigene Tor befördert hätte. Was ihm jedoch nicht anzulasten war, denn, so stellte Manuel Neuer fest: "Es ist nicht einfach, den Ball aus einer Höhe wegzubringen, wo man kein Körperteil hat, mit dem man ihn wegschlagen kann - so viele Bauchmuskeln kann man gar nicht haben."

Verrückte Einlage als Sinnbild

Boatengs aufregende Rettungsaktion in zwei Akten war die Szene des Spiels schlechthin, den Bundestrainer animierte sie zu einem hintersinnigen Bonmot ("es ist gut, wenn man einen Boateng als Nachbar hat in der Abwehr"). Dennoch ließ sich diese verrückte Einlage auch ein bisschen als Sinnbild für den deutschen Auftritt sehen.

Über 90 Minuten besehen, stand da eine neuformierte deutsche Hintermannschaft in breiter, vorwiegend stabiler Ordnung beieinander, während im Zentrum Toni Kroos mit maschineller Präzision und maximaler Präsenz sein Pass-Spiel ins Werk setzte, derweil die deutschen Offensiven nicht immer effizient, aber doch immerhin stetig und eifrig und variabel die gegnerische Abwehr beschäftigten.

Es war also vieles ungefähr so, wie es sein soll, jedoch mit der Andeutung von Abgründen, deren Tiefen noch nicht ausgelotet sind. Während der ersten Halbzeit wankte das Gefüge immer wieder höchst bedenklich, und noch ist nicht geklärt, ob die Erschütterungen aus den üblichen Beschwernissen der Turnierpremiere, den Personalwechseln oder generellen Befindlichkeiten resultierten. "Es waren Nuancen, wo wir vielleicht nicht das hundertprozentig richtige Stellungsspiel hatten", beschönigte Manuel Neuer, denn es waren mehr als Kleinigkeiten.

Nur ein pflichtgemäßer Sieg

Zu den Mängeln im System gesellten sich persönliche Probleme, wie sie etwa Benedikt Höwedes hatte, der die Abwägung zwischen defensiven und offensiven Aufgaben nicht hinbekam. Thomas Müllers Aktionismus, Mesut Özils Passivität und Julian Draxlers fehlender Sinn fürs Verteidigergeschick trugen an anderen Stellen des großen Ganzen zu den Unruhen bei. Spuren der Panik kamen in der Phase vor der Pause auf. "Es waren viele Emotionen im Spiel", sagte Shkodran Mustafi, "es war nicht einfach, die Geschwindigkeit rauszunehmen."

Was den eher pflichtgemäßen denn weltmeisterlichen Sieg des Favoriten aufwertet: Diskutierend gingen die deutschen Spieler beim Pausenpfiff in die Kabine und immer noch diskutierend kamen sie aus ihr hervor - mit dem produktiven Effekt, dass auf einmal passte, was vorher schiefstand. "Wir haben es besser gemacht als in der jüngeren Vergangenheit", fand Neuer.

Deshalb werden ja die Deutschen gefürchtet: Dass sie sich in jeder Lebenslage die Gebrauchsanweisung anzueignen verstehen. Manchmal konnte man zwar meinen, dass der EM-Start der Nationalelf einem höheren Verwaltungsakt glich - aber mit Mitarbeitern wie Boateng wird Behördenarbeit niemals langweilig werden.

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