WM-Stadion Jekaterinburg:Wie eine dicke Eule mit Flügeln

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Sitzplatz in Jekaterinburg: Ohne Dach, aber mit Weitblick (Foto: Getty Images)
  • Die Arena in Jekaterinburg ist die kurioseste Konstruktion dieser Fußball-WM: Weil ungefähr 10 000 Zuschauer außerhalb sitzen, auf gigantischen Stahlrohrtribünen.
  • Die alte Fassade ist prunkvoll-verspielt, dahinter streckt sich so schlicht wie möglich die neue Außenwand in den Himmel.
  • Im Gegensatz zu vielen anderen WM-Stadien könnte die Arena dem Austragungsort ein Erbe hinterlassen und kein Millionengrab.

Von Claudio Catuogno, Jekaterinburg

Das Stadion von Jekaterinburg, in dem am Sonntag Japan gegen Senegal spielt, stand bereits an seinem Ort nahe der Moskovskaya-Straße, als in der Nacht auf den 17. Juli 1918 ganz in der Nähe der letzte russische Zar ermordet wurde, Nikolaus II., samt seiner Familie. Von den obersten Tribünenrängen aus kann man die "Kathedrale auf dem Blut" sehen, die zu Ehren des Zaren am Ufer des Isset steht. Okay, es war damals noch nicht exakt jenes Stadion, welches nun vier WM-Gruppenspiele beherbergt, am Mittwoch noch Mexiko gegen Schweden.

1918 wurde das Areal vor allem für Fahrradrennen genutzt. Aber schon auf Schwarz-Weiß- Bildern aus dem Jahr 1928 ist zu sehen, wie hier Fußball gespielt wurde, im Lenin-Regionalstadion. 1957 wurde dann das "Zentralstadion" eröffnet. Damals entstand jene neoklassizistische Fassade, die bis heute erhalten geblieben ist, und in die das neue Gebäude nun hineingesteckt wirkt wie ein grauer To-go-Becher in einen liebevoll verzierten Becherhalter. Je sechs mit Statuen besetzte Säulen heißen die Besucher an den Haupteingängen willkommen.

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Zwölf Bauten sind die Bühnen der Weltmeisterschaft - zum Teil extrem überteuert und unter miserablen Arbeitsbedingungen errichtet. Manche werden eine traurige Zukunft haben.

Die Schönheit der Details erschließt sich aber erst auf den zweiten Blick. Auf den ersten ist die Arena in Jekaterinburg schlicht die kurioseste Konstruktion dieser Fußball-WM: Weil nämlich ungefähr 10 000 Zuschauer gar nicht im Stadion sitzen, um die Spiele zu verfolgen. Sondern außerhalb, auf gigantischen Stahlrohrtribünen. Nur so erfüllt die Arena die Mindestkapazität der Fifa von 35 000 Plätzen. Hinter den Toren sind in der Fassade jeweils Lücken gelassen, durch sie fällt der Blick auf den Rasen. Aus der Luft sieht das Stadion mit seinen zwei Außentribünen aus wie eine dicke Eule mit Flügeln.

Am Donnerstagabend gewann in Jekaterinburg Frankreich gegen Peru 1:0, die Franzosen stehen damit im Achtelfinale, die Peruaner sind ausgeschieden. Auf den Stahltribünen saßen vor allem peruanische Fans. Die Wetter-App hatte starken Regen vorhergesagt. Die Sitze sind nicht überdacht. Doch dann blieb es trocken - und die Peruaner hatten lediglich einen Temperatursturz auf 13 Grad sowie den eisigen Wind zu überstehen, der im östlichsten aller zwölf WM-Spielorte, in den Ausläufern des Ural-Gebirges, häufig weht. Die Peruaner schlotterten, aber das hinderte sie nicht am Singen.

Zwischen 2007 und 2011 war das Zentralstadion schon einmal modernisiert und dann feierlich eröffnet worden. Als kurz darauf der WM-Zuschlag für die Stadt kam, musste wieder alles weg. Architektonisch ist das, was dann entstand, allerdings bemerkenswert. Die alte Fassade ist prunkvoll-verspielt, dahinter streckt sich relativ schlicht die neue Außenwand in den Himmel. Erst bei Dunkelheit fängt sie zu leuchten und zu blinken an, in die Verkleidung ist ein gigantischer Multimedia- Teppich eingebaut. Das Alte wird bewahrt, das Neue fügt sich ein, ohne sich aufzudrängen - das unterscheidet Jekaterinburg von vielen anderen modernen Arenen, die ja oft wie Gummiboote oder Sahneschichttorten aussehen.

Die nicht sehr dekorativen Stahlrohrtribünen werden nach der WM wieder abgebaut, die Fassade wird geschlossen. Und die Stadt hat dann eine Arena für 23 000 Zuschauer, die tatsächlich dem selbstgesetzten Anspruch des Weltverbands Fifa gerecht werden könnte, den Austragungsorten ein Erbe zu hinterlassen - und kein Millionengrab. Auch wenn unbestätigten Angaben zufolge der Umbau ungefähr 250 Millionen und allein die Stahlrohrtribünen 40 Millionen Euro gekostet haben sollen.

Auf ihrer Website führt die Fifa zu allen zwölf WM-Arenen den Punkt "Vermächtnis" auf. Ein kaum erfüllbarer Anspruch angesichts der Rekordkosten, die diese WM verschlingen wird: über zehn Milliarden Euro. Allein das neue Stadion in St. Petersburg wurde durch Korruption und Vetternwirtschaft fast eine Milliarde Euro teuer. Da muss sich die Fifa die Wahrheit immer wieder ein bisschen zurechtbiegen. So sollte etwa in Wolgograd unbedingt eine neue Arena errichtet werden - die Politik bestand darauf, dass das ehemalige Stalingrad WM-Stadt wird.

Und die Fifa verschleiert jetzt die Kollateralschäden: Nach dem Turnier werde "die Wolgograd-Arena die Heimstätte des FC Rotor, der in der Vergangenheit bereits mehrfach unter den ersten Drei der russischen Meisterschaft landete", beschreibt sie das angebliche Vermächtnis. Klingt ja ganz plausibel. Tatsächlich ist der einst so ruhmreiche FC Rotor gerade aus der zweiten in die dritte Liga abgestiegen. Und wenn man weiß, dass schon zu den Spielen der Premjer-Liga im Schnitt nur 12 000 Zuschauer kommen, ahnt man, dass Rotor Wolgograd in der dritten Liga eher keine 45 000-Zuschauer-Arena brauchen kann.

In Jekaterinburg - mit fast 1,4 Millionen Einwohnern Russlands viertgrößte Metropole nach Moskau, St. Petersburg und Nowosibirsk - ist der FK Ural Oblast Swerdlowsk der führende Klub. Er heißt noch heute so, wie Jekaterinburg bis 1991 hieß, als der berühmteste Sohn der Gegend, Boris Jelzin, erster frei gewählter Präsident des post-sowjetischen Russlands wurde. Ural Swerdlowsk spielt immerhin in der ersten Liga und lockt dort zu seinen Spielen durchschnittlich 6000 Fans an. Ein paar mehr sollten es noch werden, wenn dem kuriosesten Stadion dieser Fußball-WM erst mal seine Eisenflügel gestutzt sind.

© SZ vom 23.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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