Japan:Schritt Richtung Seele

Rugby World Cup 2019 - Pool A - Japan v Ireland

Keith Earls tackelt Kenki Fukuoka. Verloren hat sein Team trotzdem: Die Japaner überholen die Iren.

(Foto: Peter Cziborra/Reuters)

Die Gastgeber haben eine Mission: ihre Landsleute das Spiel zu lieben lehren. Der Sieg gegen Mitfavorit Irland lässt ihr Potenzial erahnen.

Von Thomas Hahn, Tokio

Aus den grünen Reihen fiel am Ende noch ein schlechter Pass. Kenki Fukuoka nahm ihn auf und rannte. Er rannte mit durchgedrücktem Kreuz, wie einer der Angst vor seinen Verfolgern hat. Zwei Iren setzten ihm nach, Keith Earls stellte ihn schließlich mit einem Tackle, der bestimmt ins irische Rekordbuch der besten Rugby-Rettungstaten kommen würde, wenn nicht längst alles verloren gewesen wäre für Irlands Mannschaft gegen Fukuoka und die anderen entfesselten Japaner.

Wenig später war es aus, und die Weltmeisterschaft in Japan hatte ihren ersten großen Aufreger. 19:12 (9:12) für Japan. Irland, Mitfavorit und als Weltranglistenerster ins Turnier gestartet, sah sich zu Boden gedrückt vom Gastgeber aus dem Nicht-Rugby-Land der aufgehenden Sonne. Auf den Tribünen des Stadions in Shizuoka jubelten fassungslose Einheimische, und Japans Gedrängehalb Yutaka Nagare sagte: "Das bedeutet viel, wir haben es geschafft, Japan Freude zu bereiten."

Japans Rugbyspieler haben eine Mission bei diesem Heim-Turnier. Sie sollen als erste asiatische Mannschaft das Viertelfinale einer Rugby-WM erreichen und dabei ihr Spiel in die Seele der Landsleute tragen. Sie versuchen das mit einem Team, das diverse Zugewanderte aus Rugby-Nationen verstärken, mit Leidenschaft und körperlicher Präsenz, und wenn man ihre Leistung vom Samstag zum Maßstab nimmt, dann gelingt das Vorhaben auch. Denn der Sieg gegen Irland war nicht ein irgendwie herbeigekämpfter Außenseitererfolg. Er zeigte, dass der neuseeländische Chefcoach Jamie Joseph eine Athletengruppe hinter sich versammelt hat, die das Zeug zum Strahlen hat.

Ihr 30:10-Erfolg gegen Russland in Tokio zum WM-Auftakt war schon ziemlich in Ordnung, aber letztlich nicht viel mehr als ein souveräner Pflichtsieg. Das Treffen mit Irland hingegen galt als Bewährungsprobe. Eine knappe Niederlage nach hartem Kampf wäre den Japanern wahrscheinlich schon als moralische Errungenschaft im Kampf um Platz zwei in Gruppe A des Tableaus ausgelegt worden.

"Sie hatten eine unglaublich starke Verteidigung, von Anfang an kam Welle auf Welle von permanentem Druck"

Nun schauen die Japaner auf die Tabelle ihrer Gruppe von oben herab und genießen das Lob aus berufenem Munde. Die Iren fühlten sich überrannt und eingeengt. "Sie hatten eine unglaublich starke Verteidigung", sagte der Erste-Reihe-Angreifer Cian Healy, "von Anfang an kam Welle auf Welle von permanentem Druck." Es begann nicht schlecht für Irland. Ihr Plan war wohl, die Japaner aus der Luft zu schlagen, weil diese nicht ganz die Körpergröße auf den Platz bringen wie andere Teams: Hohe Kicks waren der Ausgangspunkt für die beiden Trys durch Gary Ringrose und Bob Kearney, die Irland erst 5:0, dann 10:3 in Führung brachten.

Aber die Japaner blieben unbeeindruckt, bedrängten den Favoriten mit Geduld und Tempo, erzwangen Penaltys und damit erste Punkte, ehe sie dem irischen Spiel in der zweiten Halbzeit endgültig die Luft abdrehten. In der 59. Minute brach Kenki Fukuoka auf der linken Seite durch, freigespielt von seinen Kollegen, und der Pausenstand von 9:12 verwandelte sich in ein 14:12. Es musste den Iren vorkommen, als wachse auf jedem freien Stück Fläche ständig ein neuer Japaner aus dem Boden. Kein Durchkommen, nirgends, stattdessen leichte Fehler und pfeilschnelle Widersacher. Spätestens als Penalty-Spezialist Yu Tamura acht Minuten vor Schluss auf 19:12 stellte, war klar: Ohne ein kleines Wunder kann Irland dieses Spiel nicht mehr drehen.

Es gab kein Wunder, stattdessen bekam Fukuoka den Ball nochmal geschenkt. Über den vergebenen Alleingang des 27-jährigen Offensivspielers urteilte Coach Joseph später: "Wenn er schon ein bisschen mehr Rugby hinter sich hätte, hätte er die Punkte gemacht." Ansonsten hatte Jamie Joseph wenig auszusetzen. Seit Januar hat er die Nationalspieler unter Kontrolle, jeder hat sich von seinen Klubrugby-Pflichten entbunden, um ganz für die nationale Aufgabe da zu sein. Das Irland-Spiel scheint dabei ein besonderer Fixpunkt in der Aufbauarbeit gewesen zu sein. "Irland ist eine Qualitätsmannschaft und wir haben uns auf dieses Spiel viel länger vorbereitet als die Iren", sagt Joseph, "das letzte Jahr mindestens, wenn nicht sogar die letzten drei Jahre. Die Iren haben über das Spiel seit Montag nachgedacht." Es kann auch ein Vorteil sein, klein zu sein, wollte Jamie Joseph damit wohl sagen. Dann musste er sich darum bemühen, die berüchtigte japanische Erfolgserwartungshaltung nicht zu hoch schlagen zu lassen.

Bei der WM 2015 in England machte Japan als Südafrika-Bezwinger Schlagzeilen und überstand die Gruppenphase nicht, das soll nicht wieder passieren. "Wir nehmen eins nach dem anderen", sagte Joseph deshalb. Und Kapitän Michael Leitch, gegen Irland erst nach 30 Minuten eingewechselt, gab den Zeremonienmeister einer sehr kurzen Siegesfeier. "Sie beginnt und endet in der Umkleide", sagte er, "wir haben dort 15 Minuten, nehmen ein paar Bier und das war's." Die Japaner haben noch viel zu tun bei ihrer Heim-WM.

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