Auto fahren, wandern, schwimmen – geht das ohne Arme und Beine? Das sei nicht die richtige Frage, sagt Janis McDavid, für nichts in seinem Leben. Für ihn gehe es nur um das „Wie“, also die Lösungsfindung. Das ist es auch, was er in seinen Büchern schreibt und in seinen Motivationsvorträgen vermittelt. Diese Einstellung hat ihm ermöglicht, eine Rennlizenz zu erlangen – eines seiner großen Lebensziele, für das er unter Beweis stellen musste, dass er sich in nur sieben Sekunden eigenständig aus dem Rennwagen in Sicherheit bringen kann.
Sie ermöglichte ihm auch, auf den 5895 Meter hohen Kilimandscharo zu gelangen, im Rucksack auf dem Rücken seiner Freunde. „Oft sind die Dinge, die klein aussehen, in Wahrheit aber viel größer als der höchste Berg Afrikas“, sagt der 33-Jährige dann und bezieht sich auf das Schwimmen, mit dem es lange nicht funktionieren wollte. Sein ambivalentes Verhältnis zum Wasser begann schon als Kind, erzählt er am Telefon. Damals, beim Urlaub in Hannover, folgte er seinem Vater eine Eisentreppe hinab in einen See, um seinen Körper trug er einen Schwimmring. Mit seinen Stümpfen rutschte er auf den glitschigen Stufen aus, fiel kopfüber ins Wasser und verschwand im Schilf. Seine Mutter, die am Ufer stand, zog ihn geistesgegenwärtig heraus. Das war er dann, sein erster Schwimmversuch. Eine traumatische Erfahrung für ihn.
Seither begab er sich nur noch mit einer orangefarbenen Rettungsweste ins Wasser, „eine Demütigung für mich“, wie er sagt. Noch einmal probierte es eine Schwimmlehrerin, ihn zum Schwimmen zu bringen. Sie zog ihm die stabilisierende Weste aus, mit der er sich senkrecht im Wasser bewegt, und wieder verlor er die Balance, ging unter „wie ein Stein“. Sein Versuch beim Schnorcheln endete ebenso dramatisch, als eine Welle über ihn schwappte. Einzig mit Atemmaske und Pressluftflasche traute er sich wieder zurück ins Wasser, beim Tauchen an der Pazifikküste in Kolumbien. Das Thema Schwimmen spielte erst einmal keine Rolle mehr.
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Janis McDavid wurde ohne Arme und Beine in Hamburg geboren, und von Anfang an war sein Leben geprägt von Herausforderungen. Was ihm heute hilft, damit umzugehen, ist die Art und Weise, wie er sein Leben für sich selbst interpretiert, welche Narrative er erzählt. Er sagt nicht: Meine leiblichen Eltern wollten mich nicht und haben mich damals weggegeben. Sondern: „Ich habe zwar keine Arme und Beine, dafür aber vier Eltern.“ Er wuchs in Bochum bei den Menschen auf, die ihn als Baby zur Pflege aufnahmen, ihm jetzt am nächsten stehen und die er „meine Eltern“ nennt. Seine Mutter setzte sich schon früh für Chancengleichheit für ihn ein. So erkämpfte sie gegen alle behördlichen Widerstände, dass ihr Sohn mit 19 Monaten seinen ersten elektrischen Rollstuhl bekam – sich also wie andere Kinder, die in dem Alter das Laufen lernen, eigenständig fortbewegen konnte. Seine Kindheit beschreibt er als glücklich und unbeschwert.
Im Alter von acht Jahren kamen sie dann aber, die ersten existenziellen Fragen. Es war morgens, kurz vor der Schule, er hüpfte eilig durch sein Zimmer, sah sich im Spiegel und empfand sich selbst als unvollständig. Er, der vorher noch davon träumte, Motorradpolizist zu werden. Plötzlich erschien ihm das selbst als unmöglich. Er schämte sich, probierte in den folgenden Jahren Prothesen aus, nur um sich nicht mehr von der Masse abzuheben, bis er mit etwa 18 Jahren realisierte: Egal, was ich tue, ich werde niemals Arme und Beine haben. Also begann er, seine Lebenssituation zu akzeptieren, fand eigene Lösungen und Wege, wo andere nur Probleme sahen. Er leistet nun mit jeder Grenze, die er verschiebt, Pionierarbeit.
Dass Schwimmen Freiheit für ihn bedeutet, fand er schließlich vor einem halben Jahr heraus, in einem Schwimmbad in Lauf an der Pegnitz im Nürnberger Land. Auf Einladung der „Stiftung Deutschland schwimmt“, die sich für ein Grundrecht auf Schwimmen einsetzt, wagte er einen neuen Versuch. Sie starteten niedrigschwellig im Kinderbecken. Zunächst hielt er sich nur auf den Stufen auf, näherte sich spielerisch dem gefürchteten Element, tauchte mit dem Kopf unter und erzeugte beim Ausatmen Blubberblasen.
Sein nächstes Ziel: den Starnberger See zu durchschwimmen, eine Distanz von 2,4 Kilometern
Er ist überzeugt: „Ich habe Schwimmen gelernt, weil nicht das Schwimmen im Vordergrund stand“. Der Fokus lag vielmehr darauf, die Eigenschaften des Wassers schrittweise kennenzulernen und zu spüren, wie es ihn trägt. Das brachte ihm das nötige Vertrauen. McDavid setzt sich nun als Botschafter der Stiftung dafür ein, dass Kinder, ob mit oder ohne körperliche Einschränkung, das Schwimmen lernen. Niemand solle so wie er am Beckenrand Ausgrenzung erleben – oder gar sterben. „Jedes ertrunkene Kind ist ein gesellschaftliches Versagen“, sagt er und verweist auf alarmierende Zahlen der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft DLRG, wonach 60 Prozent der Zehnjährigen nicht sicher schwimmen können.
Schwimmen eröffnet ihm nun die Welt zum Sport, die Möglichkeit, sich körperlich auszulasten. „Das erste Mal legte ich eine Strecke von 500 Metern aus eigener Kraft zurück“, sagt er, der früher nie Sport gemacht hat. Sein nächstes Ziel: den Starnberger See zu durchschwimmen, eine Distanz von 2,4 Kilometern. „Beim Schwimmen war ich immer noch behindert“, sagt er, „aber nun sehe ich das Wasser nicht mehr als Grenze, sondern als Erweiterung.“ In Schwimmbädern begegne man ihm inzwischen anders: „Mit bewundernden Augen, ganz anders als auf der Straße mit Rollstuhl.“
McDavids Potenzial hat auch Christian Balaun, Landestrainer Paraschwimmen in Bayern, erkannt, er lobt seine Technik und mentale Stärke. Für die SG Fürth bereitet sich McDavid nun auf erste Wettkämpfe vor und ist beim bayerischen Landesverband gelistet. Fast täglich trainiert er, entweder in Bochum oder in seiner Wahlheimat Berlin. „Den sportlichen Ehrgeiz hole ich jetzt nach“, sagt er. Sein großes Vorbild ist der fränkische Para-Athlet Josia Topf, der im Sommer in Paris drei Medaillen im Schwimmen errang.
Am Ende des Gesprächs geht es auch um den Comedian Luke Mockridge, die sich im Sommer in einem Podcast abfällig über Menschen mit Behinderung äußerte – und ihre Fähigkeit zum Schwimmen infrage stellte. Das Video dazu habe er sich nicht bis zum Ende ansehen können, sagt Janis McDavid. Vielmehr schnappte er seine Schwimmsachen, fuhr mit seinem Auto ins Schwimmbad, schwamm in seinem eigenen Schwimmstil wie ein Delfin durch das Wasser – das Element, das ihm ermöglicht, alles um sich herum zu vergessen, die Sprüche, die Häme, die Blicke. Und wer weiß, vielleicht bringt ihn diese neue Liebe noch auf die ganz große Bühne, zu den Paralympischen Spielen in Los Angeles 2028.