Jan Ullrich und die Tour de France:Seine schmerzhafteste Niederlage

Der Deutsche japst wie ein Karpfen, als Lance Armstrong auf der ersten Alpen-Etappe die Verhältnisse zurechtrückt.

Von Andreas Burkert

Courchevel - Rudy Pevenage hat sich die komplette Etappe am "Place de l'Europe" mit einigen hundert Zuschauern auf einer Leinwand angesehen, knapp vier Kilometer sind es von hier noch bis zum Zielplateau der Skistation Courchevel.

Jan Ullrich

Jan Ullrich

(Foto: Foto: AFP)

Pevenage ist der persönliche Betreuer von Jan Ullrich, doch als sein Mann am Hinterrad seines Freundes Andreas Klöden endlich einbiegt und unter dem Beifall des Publikums das Schlussstück in Angriff nimmt, steht der Belgier nicht aufgeregt zwischen den Menschen. Er schaut ihm nicht einmal hoffnungsvoll nach. Pevenage trägt jetzt Sonnenbrille und leidet still in einem Plastiksessel vor einer Pizzeria, denn Jan Ullrich hat bereits seit einer halben Stunde die Tour verloren.

Elf Kilometer vor Courchevel hatte er abreißen lassen müssen, als Lance Armstrong erwartungsgemäß in die Offensive ging. "Das tut weh", sagt Pevenage, "ich denke, die Stürze hier von Jan haben eine große Rolle gespielt - sie haben die Arbeit von vielen Monaten zunichte gemacht."

"Diese Schmerzen im Lungenbereich"

Jan Ullrich, so muss man es diesmal sagen, hat in Courchevel die schmerzhafteste Niederlage seiner Karriere erlitten. 2:15 Minuten verlor er als 13. auf Tagessieger Alejandro Valverde und auf Armstrong, der sich damit das Gelbe Trikot vom weit abgeschlagenen Berliner Jens Voigt (jetzt 72.) zurückholte.

Der Patient Ullrich hatte lange gekämpft gegen das Unvermeidliche, doch hinterher legte er vor dem Teamhotel ein Geständnis ab: "Bis zur Attacke von Lance habe ich mich eigentlich ganz gut gefühlt, doch dann waren diese Schmerzen im Lungenbereich da." Danach nannte er die beim schweren Sturz am Sonntag erlittene Rippenprellung "ein Handicap".

Man hatte ihm das angesehen, wie ein Karpfen schnappte er im 20 Kilometer langen Anstieg nach Luft und konzentrierte sich offensichtlich auf die Atmung. Ullrich ging zunächst sogar aus dem Sattel, um Armstrongs Gruppe nicht ganz aus den Augen zu verlieren, doch auch das half nichts. Klöden, der ebenfalls nicht mitkam, ließ sich schließlich auf Anordnung von Teamchef Mario Kummer zurückfallen und geleitete Ullrich ins Ziel.

Auch der "Joker" wird die Tour nicht mehr gewinnen

Der Toursieger von 1997 rangiert nun mit vier Minuten auf Armstrong an Position acht, 14 Sekunden vor Klöden. Wenigstens die lästigen Fragen nach den Hierarchieverhältnissen werden sie bei T-Mobile so schnell nicht mehr hören, doch auf die Umstände der Klärung hätte Ullrich wohl gerne verzichtet: Denn "der Joker", wie er den kasachischen Teampartner Alexander Winokurow stets bezeichnet hatte, büßte gestern 5:18 Minuten ein. Auch er wird die Tour nicht mehr gewinnen.

Winokurow hatte ebenfalls gelitten, er sagte: "Es war kein Hungerast, ich war einfach blockiert und bin jetzt sehr enttäuscht, weil ich mich ein Jahr auf dieses Rennen vorbereitet hatte."

Lance Armstrong hat sich somit seiner prominentesten Verfolger entledigt, auch der Italiener Ivan Basso zählte trotz seines fünften Rangs eher zu den Verlierern. Basso ist nun Dritter hinter dem wundersamen Aufsteiger im Bergtrikot: Der Däne Mickael Rasmussen hielt sich auf dem Weg nach Courchevel lange an Armstrongs Seite auf, dem Tagesdritten fehlen im Tableau nur 38 Sekunden auf den Champion - doch eine Gefahr stellt der schwache Zeitfahrer für den Sechsfachsieger nicht dar, zumal Armstrong gestern beinahe spielend seine Konkurrenz erledigte.

Seine schmerzhafteste Niederlage

Nachdem sich am Cormet-de-Roselend (1967 m) freundlicherweise Team Phonak verausgabt hatte, übernahm seine Discovery-Equipe vor Courchevel und sorgte mit sagenhaftem Tempo früh für namhafte Opfer: die spanische Kletter-Armada mit Mayo, Beloki und Heras fuhr nun ein einsames Rennen im Hinterfeld, Rasmussens nomineller Kapitän Menchov musste bald ebenso passen wie Botero, Landis, der bisherige Zweite Moreau und Valverdes einstiger Chef Karpets.

Vorne legten Rubiera, Azevedo, Hincapie, Beltan, Savoldelli und der auf einer Abfahrt gestürzte Ukrainer Popowitsch trotz der steilen Rampen furiose Sprints hin, ehe sie sich entkräftet zurückfallen ließen. Seinen letzten Chauffeur entließ Armstrong erst, nachdem er ihn eindringlich zu einer finalen Energieleistung aufgefordert hatte.

Danach übernahm Armstrong, und der merkwürdige Einbruch seiner Flotte vom Samstag war damit für ihn vergessen. Der Amerikaner lobte seine Mannschaft, die maßgeblich am sagenhaften Stundenmittel von 36,65 km/h beteiligt war: "Sie haben heute gezeigt, wie ein Profiteam nach einem schlechten Tag zurückkommen kann."

Dass Jan Ullrich noch einmal aussichtsreich zurückkehrt in das Rennen, ist seit Courchevel fast ausgeschlossen. Die Thoraxschmerzen werden ihn noch einige Tage begleiten, die Tour wird darauf aber keine Rücksicht nehmen. Er werde "nicht aufgeben, sondern weiter kämpfen", versprach der 31-jährige Mecklenburger tapfer, "und das war ja auch kein totaler Einbruch".

Doch seine Enttäuschung konnte er nicht verbergen. Teamchef Olaf Ludwig lobte Ullrichs kämpferische Leistung und weigerte sich zudem, den Toursieg abzuschreiben. Indes, auch er klang alles andere als zuversichtlich, als er sagte: "Zu den Gewinnern zählen wir heute sicher nicht."

Armstrong will "Jan noch nicht abschreiben"

Die realistischen Ziele für die zweite Tourhälfte gab diesmal sinnigerweise der zuletzt viel beschäftigte Teamdoktor aus. "Man hat gesehen, dass Jan Schmerzen hatte", sagte Lothar Heinrich und ergänzte: "Ich denke, hier geht es jetzt nur noch um Etappensiege."

Der oberste Podiumsplatz ist jedenfalls für Armstrong reserviert, obwohl der Tourregent "Jan noch nicht abschreiben" mochte und Valverde als "Zukunft des Radsports" pries. Dem 25-jährigen Tourneuling, mit seinem Erfolg auf Position fünf vorgerückt, hatte Armstrong im Sprint den Sieg überlassen und schließlich die Hand gereicht. Er konnte sich diese honorigen Gesten leisten.

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