Sexueller Missbrauch im Schwimmen:"Alle haben geschwiegen - bis heute"

Sexueller Missbrauch im Schwimmen: "Ich glaube, man ist es anderen auch für die Zukunft schuldig, dass man darüber spricht": Jan Hempel hier im Jahr 2003 bei seiner Verabschiedung als Leistungssportler in der Sprunghalle am Freiberger Platz in seiner Geburtsstadt Dresden.

"Ich glaube, man ist es anderen auch für die Zukunft schuldig, dass man darüber spricht": Jan Hempel hier im Jahr 2003 bei seiner Verabschiedung als Leistungssportler in der Sprunghalle am Freiberger Platz in seiner Geburtsstadt Dresden.

(Foto: C3 Pictures/Imago)

In einer ARD-Dokumentation sagt der ehemalige Wasserspringer Jan Hempel, er sei über Jahre immer wieder von seinem Trainer missbraucht worden, sogar am Tag des olympischen Wettkampfs. Der Deutsche Schwimm-Verband stellt Bundestrainer Lutz Buschkow frei, der davon seit Jahren wissen soll.

Von Claudio Catuogno und Sebastian Winter

Der deutsche Sport muss sich erneut mit schweren Vorwürfen zum Umgang mit sexuellem Missbrauch auseinandersetzen. Jan Hempel, einer der besten deutschen Wasserspringer der letzten Jahrzehnte, berichtet in der ARD-Dokumentation "Missbraucht - Sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmsport" (Samstag, 20. August, 22.40 Uhr, von diesem Donnerstag an in der ARD-Mediathek) erstmals öffentlich, dass ihm seit der Jugendzeit schwerste sexuelle Übergriffe durch seinen langjährigen Trainer Werner Langer widerfahren seien. "Ich bin von meinem Trainer missbraucht worden. Er hat eigentlich keinen Zeitpunkt ausgelassen, um seinen Wünschen und Bedürfnissen freien Lauf zu lassen", sagt Hempel in der Dokumentation.

Der einstige Profisportler, der an diesem Sonntag 51 Jahre alt wird, hatte 1996 in Atlanta Olympia-Silber und 2000 in Sydney Olympia-Bronze gewonnen, neben zahlreichen weiteren internationalen Medaillen. Trainiert wurde er von Langer bereits in Jugendzeiten. Hempel sagt in dem Film des Investigativ-Journalisten Hajo Seppelt, er sei elf Jahre alt gewesen, als Langer ihn zum ersten Mal missbraucht habe. Von 1982 bis 1996 habe der Missbrauch angedauert. Hempel berichtet, es sei zu regelmäßigen Vergewaltigungen gekommen, unter anderem auch während der Olympischen Spiele 1992 in Barcelona, an der Wettkampfstätte, unmittelbar vor dem Wettkampf.

"Ich weiß bloß, dass man das dann am Ende über sich ergehen ließ, weil er eben solche Dinge sagte wie: 'Wenn du das machst, dann hast du heute Nachmittag frei.'" Zu den Vorwürfen kann sich Langer nicht mehr äußern, er nahm sich 2001 das Leben. Hempel sagt: "Ich glaube, man ist es anderen auch für die Zukunft schuldig, dass man darüber spricht."

Die Missbrauchsvorwürfe gehören zu den massivsten, die ein deutscher Weltklasse-Sportler je öffentlich gemacht hat

Auch, weil sie zu verschwinden drohen, brachte Hempel seine Erinnerungen jetzt zu Papier. Der frühere Spitzensportler ist, wie in der Dokumentation geschildert wird, seit Kurzem an Alzheimer erkrankt.

Die Missbrauchsvorwürfe gehören zu den massivsten, die ein deutscher Weltklasse-Sportler je öffentlich gemacht hat. Hempel hat die Spitze des Deutschen Schwimm-Verbands (DSV) nach eigener Darstellung im Jahr 1997 von den Vorgängen unterrichtet, beschuldigt den DSV aber, sich nie wirklich mit den Vorwürfen auseinandergesetzt zu haben. Der Verband habe sich vielmehr unter einem Vorwand von Langer getrennt - der Trainer war auch Stasi-Mitarbeiter. "Alle haben geschwiegen, bis heute", sagt Hempel.

Sexueller Missbrauch im Schwimmen: Was wusste Lutz Buschkow? Der damalige Trainer und heutige Chef-Bundestrainer der deutschen Wasserspringer im Juni 2003 im Gespräch mit Jan Hempel (rechts).

Was wusste Lutz Buschkow? Der damalige Trainer und heutige Chef-Bundestrainer der deutschen Wasserspringer im Juni 2003 im Gespräch mit Jan Hempel (rechts).

(Foto: Imago)

Als einen zentralen Mitwisser nennt der ehemalige Wasserspringer den langjährigen DSV-Funktionär und -Trainer Lutz Buschkow, 64, der im Verband als Wassersprung-Bundestrainer noch immer einen Spitzenposten bekleidet und sich derzeit mit der DSV-Delegation bei den Schwimm-Europameisterschaften in Rom aufhält. Konkret wirft Hempel Buschkow im Film vor, dazu beigetragen zu haben, dass sein Missbrauchsfall nie aufgearbeitet wurde und keine Lehren für die Zukunft gezogen wurden. Ein weiterer Zeitzeuge bestätigt in der Dokumentation, dass Buschkow seinerzeit über Hempels Vorwürfe informiert gewesen sei.

Trifft das so zu? Wie wird der DSV mit der Personalie Lutz Buschkow weiter verfahren? Buschkow selbst habe eine ARD-Anfrage nicht beantwortet. Konkrete Anfragen der SZ an Buschkow ließ der DSV am Donnerstag unbeantwortet. Buschkow weilte mit der DSV-Delegation bei der EM in Rom und verfolgte dort von der Tribüne aus, wie Tina Punzel und Lena Hentschel im Synchronspringen vom Drei-Meter-Brett Gold gewannen.

Erst am Abend teilte der Schwimmverband dann per Statement mit, man kenne Hempels Vorwurf gegen Buschkow selbst erst wenige Stunden, prüfe ihn "intensiv" - es lägen aber nach erster Akteneinsicht "keinerlei derartige Anhaltspunkte" vor. Dennoch habe sich der Vorstand "aufgrund seiner hohen moralischen Ansprüche dazu entschieden, Herrn Buschkow bis zur finalen Klärung des Sachverhaltes mit sofortiger Wirkung von seiner Tätigkeit als Bundestrainer Wasserspringen im DSV freizustellen".

Jan Hempels Schilderungen in der ARD fügen sich ein in eine ganze Reihe von Vorwürfen und bereits belegten Fällen von sexualisiertem Missbrauch im deutschen Schwimmen. Erst im vergangenen Februar verurteilte das Amtsgericht Würzburg den ehemaligen Langstrecken-Bundestrainer Stefan Lurz zu einer sechsmonatigen Bewährungsstrafe und 1500 Euro Geldstrafe. Bereits im Jahr 2010 hatte die Staatsanwaltschaft gegen Lurz ermittelt, hatte damals den Verdacht aber nicht erhärten können. Wie der Spiegel im Februar 2021 berichtete, lag das auch daran, dass mehrere Personen aus seinem Umfeld falsch für ihn ausgesagt haben sollen.

Besonders delikat: Das zuständige Amtsgericht Würzburg bestätigte dem ARD-Team, dass Stefan Lurz laut Bewährungsauflagen derzeit "jegliche berufliche und ehrenamtliche Tätigkeit im Zusammenhang mit dem Schwimmsport" zu unterlassen habe. Allerdings zeigen Aufnahmen in der Dokumentation Lurz, wie er auf dem Gelände und in Räumlichkeiten des Vereins SV Würzburg 05 tätig ist.

Sexueller Missbrauch im Schwimmen: Der ehemalige Freiwasser-Bundestrainer Stefan Lurz ist wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt, laut ARD-Dokumentation aber weiter auf dem Vereinsgelände des SV Würzburg 05 anzutreffen.

Der ehemalige Freiwasser-Bundestrainer Stefan Lurz ist wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt, laut ARD-Dokumentation aber weiter auf dem Vereinsgelände des SV Würzburg 05 anzutreffen.

(Foto: Daniel Naupold/dpa)

Eine Person, die das Umfeld des Vereins sehr genau kennt, meldete sich am Donnerstag bei der SZ und bestätigte, dass Stefan Lurz weiterhin auf dem SV-Gelände anzutreffen sei. "Er ist immer noch in der Schwimmhalle", sagt die Person, die anonym bleiben möchte. Generell gebe es eine Amigo-Kultur im Verein SV Würzburg 05, mit der Familie Lurz im Zentrum: Sie herrsche über den Verein, ihr gegenüber traue sich aus Angst vor Repressalien niemand, etwas zu sagen. Präsident des SV Würzburg ist der ehemalige Langstrecken-Weltmeister Thomas Lurz, der Bruder von Stefan Lurz. Am Donnerstag sagte er der Würzburger Main-Post, sein Bruder habe "rein gar nichts mit dem sportlichen Betrieb zu tun", sondern sei als kaufmännischer Angestellter für den Biergarten, den Bereich "Adventure Golf" und die Sauna des Vereins zuständig.

Die Sauna?

Auch der ehemalige DSV-Leistungssportdirektor Thomas Kurschilgen findet Stefan Lurz' Anwesenheit auf dem Vereinsgelände skandalös: "Das ist für mich gegenüber den dort schwimmenden Sportlerinnen und Sportlern eine Respektlosigkeit ohnegleichen", sagte er der ARD. "Wer kann, wenn er diese Bilder sieht, junge Athletinnen und Athleten aus dem Umfeld an diesen Bundesstützpunkt unbedenklich hinführen? Ich bin da wirklich sprachlos." Kurschilgen war 2021 im Zuge der Spiegel-Recherchen zum Fall Lurz vom aktuellen DSV-Präsidium geschasst worden wegen angeblicher Untätigkeit, was er heftig bestreitet. Derzeit führt er darüber einen Rechtsstreit gegen den DSV.

Der DSV wiederum, heißt es in dem ARD-Bericht, habe auf die offenbar eher weite Auslegung von Lurz' Bewährungsauflagen durch den SV Würzburg 05 erst nach konkreten Recherchen im Sommer reagiert. Demzufolge solle Würzburg nun den Status als Bundesstützpunkt verlieren. DSV-Präsident Marco Troll bestätigte dies am Abend in einem Gespräch mit der ARD nicht; er sagte lediglich, der DSV habe in Würzburg leider kein Hausrecht, da könne man also nichts machen. Konkrete Fragen der SZ zu diversen in der Dokumentation erhobenen Vorwürfen ließ der DSV bis zum Abend unbeantwortet.

Die Dokumentation beleuchtet weitere Fälle sexualisierter Gewalt im deutschen Schwimmen. So berichten dort drei ehemalige Athletinnen aus Bayern, die aus nachvollziehbaren Gründen anonym bleiben wollen, von ihrem Trainer im Verein missbraucht worden zu sein, ab ihrem 15., 13. beziehungsweise zehnten Lebensjahr. Der Trainer, zwischenzeitlich auch in der Betreuung des DSV-Nachwuchses tätig, wurde inzwischen wegen jahrelangen Missbrauchs junger Schwimmerinnen zu einer mehr als vierjährigen Haftstrafe verurteilt.

Bei den Sommerspielen 2021 in Tokio soll eine zum Schwimmverband gehörige Person zwei Frauen verbal belästigt haben

Außerdem wird der Fall zweier weiblicher Mitglieder der DSV-Delegation während der Olympischen Spiele 2021 in Tokio geschildert, die intern Anzeige erstattet hatten, nachdem eine verbandszugehörige männliche Person ihnen gegenüber mehrfach verbal sexuell übergriffig geworden sei. Er habe sich in ihrem Beisein demonstrativ in die Unterhose gegriffen sowie gefragt, warum sie nicht zu ihm unter die Dusche gekommen seien. Obwohl die DSV-Präventionsbeauftragte nach ARD-Informationen Konsequenzen gefordert habe, sei nach Eindruck der Betroffenen nichts passiert. Die aktuelle DSV-Spitze um den Präsidenten Marco Troll ließ dazu lediglich wissen, bei dem Mann liege "gegebenenfalls" ein Verstoß "gegen Good-Governance-Regeln vor".

Jan Hempel kehrt am Ende des Films als traumatisierter Mann nach Barcelona zurück, an den Schauplatz seines olympischen Wettkampfes von 1992 - und an den Ort, der für ihn sportlich, aber vor allem seelisch zum Albtraum wurde. Der damals 20-Jährige lag auf Medaillenkurs vom Zehn-Meter-Turm, als ihm sein dreieinhalbfacher Auerbachsalto völlig misslang. Nun, 30 Jahre später, kann man zumindest erahnen, warum.

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