Jamaika bei Olympischen Winterspielen:Exoten auf ernster Bob-Mission

Frauen Bob-Team Jamaika

Unterschied zu 1988: Jamaikas Bob-Frauen (rechts Pilotin Fenlator-Victorian) haben anders als die Kollegen vor 30 Jahren schon Bob-Erfahrung.

(Foto: Ralf Rödel/dpa)
  • Jamaika startet bei den Olympischen Spielen in Pyeongchang mit einem Frauen-Zweierbob.
  • Das aktuelle Team muss aber mit ähnlichen Vorurteilen kämpfen wie noch vor 30 Jahren, als der Mythos von "Cool Runnings" entstand.
  • Um als Sportler ernster genommen zu werden, orientieren sich die Verantwortlichen an Deutschland.

Von Volker Kreisl

Die Sache sei die, sagt Sandra Kiriasis: Für ihre deutsche Bob-Kleidung, also für die Ausstattung einer Weltmeisterin, einer Olympiasiegerin, habe sich damals nie jemand interessiert. Dagegen jetzt: "Meine Jamaika-Klamotten will jeder tauschen."

Diese klare Niederlage müssen die Mützen, Schals und Jacken aller anderen erfolgreichen Verbände jetzt einstecken. Die Erfolgsnationen im Bobsport stehen zwar für Disziplin, für Arbeit, Kraft und Tempo, für überlegene Technologie und molekülgenaue, jahrelange Fokussierung.

Jamaika aber ist cool.

Nicht nur unter Bobfahrern, auf der ganzen Welt bewundern die Menschen die lässige Art: viel lachen wollen alle, in den Tag hinein leben, keine Angst haben und - wenigstens heimlich - hin und wieder zur Entspannung einen Spliff rauchen, wie es 1988 in dem Reggae-Songs über die tollkühnen jamaikanischen Bob-Anfänger der Spiele von Calgary geträllert wurde.

Alle? Nicht alle - ein paar wenige bewundern dieses märchenhafte Image nämlich überhaupt nicht, bekannt sind auch vier Bobsportler, die es irgendwann sogar bekämpften: Team Jamaika von 1988.

Natürlich konnten die lachen, und wie. Dudley Stokes, der Pilot von damals, erzählt, dass auch sie sich über Cool Runnings, die Verfilmung ihrer Story, amüsierten. Nur, ihre Auftritte in der Bahn, das waren keine Komödien, und überhaupt: Ihre gesamte Geschichte erinnert eher an ein sportliches Drama. Es ist das innere Drama des lustigen Exoten, der eigentlich so sein will wie die anderen: erfolgreich.

Ein T-Shirt im Tausch für eine Behandlung beim Physiotherapeuten

Nun ist Stokes wieder da. Er ist eine Art Mädchen für alles im neuen Team Jamaika, das in zwei Wochen bei Olympia in Pyeongchang mit einem Frauen-Bob am Start sein wird - 30 Jahre nach Calgary. Jazmine Fenlator-Victorian und ihre Anschieberin sind zwar keine Anfängerinnen mehr, aber doch Außenseiter. Der ganze Stab besteht nur aus sechs Leuten, hat ein Auto, fummelt mitunter bis nachts um zwei am Bob und muss auch sonst viel improvisieren, zum Beispiel mal ein Jamaika-T-Shirt rausrücken für eine Behandlung bei der Konkurrenz, weil es ja keinen eigenen Physiotherapeuten hat.

Als die Olympia-Teilnahme klar war, hat das Team von den Medien sofort den Stempel cool runnings abbekommen. Dabei wollen sie dasselbe wie die Bob-Brüder von 1988, nämlich als echte Athleten gelten, ernst genommen werden, was aber schwierig ist, wenn die Geschichte des eigenen Verbandes sogar dessen Gründer Dudley Stokes ständig zum Lachen bringt. Zum Beispiel darüber, wie alles anfing.

Alles begann mit zwei fantasievollen US-Geschäftsleuten, William Maloney und George Fitch, die in den Achtzigern auf Jamaika weilten. Maloney hatte mit Sport nichts zu tun, außer: "Er wollte schon immer mal bei einer Olympia-Eröffnungsfeier einmarschieren", erzählt Stokes und fährt fort, wie sich die beiden "over a couple of drinks" entschlossen, die Sache in die Hand zu nehmen. Wie sie sich nicht entmutigen ließen, nur weil im Sommersport schon alle jamaikanischen Olympiateams bereits standen, auch ohne sie, und wie ihnen dann die zündende Idee bei einem dieser Seifenkistenrennen kam, die in Jamaikas Hauptstadt Kingston so beliebt sind.

Nach einer Art Best-of Bob-Crashs gehen 20 Bewerber

Maloney und Fitch wurden vorstellig bei der jamaikanischen Armee. Sie machten den Militärs klar, welche Vorteile, welche Werbewirkung Leistungssport habe, und orderten eine 30 Mann starke Auswahl an schnellkräftigen Kandidaten. Einer war Stokes, der bald engagiert wurde. Als Helikopterpilot, der sich im Raum orientieren konnte, empfahl er sich quasi von selbst für die Position des Lenkers.

Stokes sagt heute, die Welt sei nun mal voller Klischees, und keines stimme. "Dass alle Jamaikaner nur in der Sonne faulenzen, Bob Marley hören und sich eine schöne Zeit machen, ist genau so ein Blödsinn wie die Meinung, dass alle Deutschen den ganzen Tag arbeiten und nie lachen", sagt er, wobei er mit Daumen und Zeigefinger seine Mundwinkel herunterzieht.

Die Arbeit begann sogleich. Maloney, Fitch, Stokes und die anderen zimmerten sich behelfsmäßige Anschiebeschlitten und trainierten in der Kaserne von Kingston auf Beton, wie man zu zweit oder zu viert schnellstmöglich einen Schlitten über 30 bis 50 Meter schiebt. So lange ist die Startstrecke, auf die beim Bobsport alles ankommt. Wer zu Beginn zu weit zurückliegt, der kann noch so gut lenken, er holt gegen gute Gegner nicht mehr auf, er hat ja keinen Motor, sondern nur die Erdanziehung, die das Tempo vervielfacht und aus einem halben Zehntel Vorsprung unten eine beachtliche Distanz schafft.

Jamaikas Amateure schoben und schoben, immer wieder diese knapp sechs Sekunden. Eine Vorauswahl in mentaler Sache hatte die 40-köpfige Bewerberschar schon reduziert - ganz ohne Rivalenkämpfe. Fitch hatte zu einem Filmeabend geladen, zeigte eine Art Best-of Bob-Crashs, am nächsten Tag waren es nur noch 20. Und nach den Beton-Trials blieben vier übrig: Hauptmann Stokes, Leutnant Devon Harris, Schütze Michael White und der Zivile Samuel Clayton.

Das erste Eis und ein Börsenkrach

In Calgary gelandet waren sie am 19. Oktober 1987. Stokes weiß das noch genau, zum einen, weil er das erste Mal Eis sah. Zum anderen wird er das Datum deshalb nie vergessen, weil es der Tag des ersten Börsenkrachs nach dem Zweiten Weltkrieg war: "Mäzen Fitch hat fast sein ganzes Vermögen verloren", berichtet er. Immerhin, das Olympiaprojekt war nicht in Gefahr, und es musste ja weitergehen. Die Jamaikaner schoben nun und fuhren auch, erst vorsichtig, dann immer schneller. Sie trainierten vier Monate lang, ein paar Wochen in Innsbruck, ein paar Wochen in Lake Placid/USA, dann stand schon Olympia bevor.

Vielleicht hat es die folgenden, teils verwirrenden, teils schockierenden Erlebnisse dieser Zeit gebraucht, damit dieser Exotenverband bis heute durchhielt, in einem Sport, der niemals in der Heimat aufgeführt werden könnte. Die Heimat mussten sie sich ersetzen, sie holten sie künstlich in die Dunkelheit, die Kälte und die Leistungsgesellschaft Nordamerikas. Zum Beispiel mit Akee, der Nationalfrucht Jamaikas. Die passt zu eingesalzenem Kabeljau, sagt Stokes, die proteinreiche Mahlzeit ist vielleicht nicht jedermanns Geschmack, aber sie war einst das Sklavenessen auf Jamaika, ist heute das Nationalgericht, und für die Bobfahrer war sie ein Stück Heimat. Salzfisch gab's in Calgary, Akee auch, zumindest in der Dose.

Das Heimweh aber verflog wohl bald von selber, denn die Olympiaparty begann, und die Jamaikaner waren, ohne es geplant zu haben, mittendrin. Der Web-Chronist des Verbandes schildert, dass die Medien schon beim Trainingslager in Lake Placid Wind bekamen von diesem Team Jamaika, dass das Ganze zunächst als Werbe-Gag abgetan und schließlich hoch stilisiert wurde. Als Stokes und seine Anschieber von den Hütern des Weltverbandes ins Programm aufgenommen wurden, waren sie die lustigen Underdogs mit Dreadlocks, die gerade "die schönste Zeit ihres Lebens" haben. Team Jamaika war plötzlich berühmt, die Olympiafans in Calgary feierten sie, noch ehe der erste Olympia-Bob unterwegs war - unter anderem, indem sie zu Hobbin & a Bobbin mitwippten, Jamaikas Teamsong: "Calgary, here we are - old Jamaica is very far."

"I crashed", sagt Stokes

Mit dem Zweierbob, dem weniger gefährlichen Schlitten, war Stokes abgeschlagen aber leidlich durchgekommen, mehr stand eigentlich nicht auf dem Programm. Nur kurz beratschlagten sie, ob sie abreisen sollten, und entschieden sich zum Bleiben. Sie besorgten sich einen gebrauchten Vierer-Schlitten der Kanadier und lackierten ihn schwarz-gelb-grün um, während der Hype immer mehr in Fahrt kam. Das US-Eishockeyteam schied aus, Ersatzstoff für die Medien bot diese Jamaika-Sache. Das Team selber zog sich zurück.

Die ersten beiden von vier Durchgängen verliefen vielversprechend. Im dritten Lauf aber, am Schlusstag der Spiele, kamen sie nur bis zum Ausgang von Kurve elf. Am Ende des Kreisels steuerte Stokes zu hoch, der Schlitten fiel bei rund 130 Stundenkilometern auf die Seite, die vier Jamaikaner prallten mit den Köpfen gegen die Eiswand und schlitterten vor den entsetzten Zuschauern seitwärts ins Ziel. Die Reggae-Party von Calgary war vorbei.

"I crashed", sagt Stokes. Wenn er heute davon spricht, dann hört man immer noch den Schmerz durch. Sie wähnten sich ja auf dem Weg zum ersten großen Erfolg, zur Aufnahme in den Kreis der Leistungssportler, ein Wunsch, den niemand so richtig wahrgenommen hatte. Aber jetzt hatten sie blaue Flecken, Schürfwunden - und lasen schmerzende Zeitungsberichte über Hasardeure, Sonntagsfahrer, Vorprogramm-Piloten. Das nette Team war an seine Grenzen gestoßen. Normalerweise hätte es das sein müssen mit Jamaika-Bob.

"Wir erkannten, dass wir ein starkes Team werden mussten!"

Und doch sitzt da 30 Jahre später die jamaikanische Trainerin Sandra Kiriasis, geboren in Dresden, im Teamhotel. Sie erzählt über das Talent von Jazmine Fenlator-Victorian, ihrer Pilotin, die halb Amerikanerin, halb Jamaikanerin ist, die für den US-Verband schon zwei Weltcup-Podestplätze belegte, ehe sie zur Nation ihres Vaters wechselte. Und über die Anschieberin Carrie Russell und den neuen Bob und den Zusammenhalt im Team, der auch nötig ist, wenn man viel fahren und transportieren muss, aber nicht jeder einen Führerschein hat.

Warum ging es also weiter? - "Weil wir uns entschlossen, zu arbeiten", sagt Stokes, "wir hatten erkannt, dass wir ein starkes Team werden mussten". - Und wie sollte das plötzlich gehen? - "Arbeiten, arbeiten, arbeiten! Wir haben uns eine neue Einstellung verpasst", sagt er.

Was für eine Einstellung? - "We called it", jetzt grinst er: "the german mode."

Die logische Folgerung, dass dieser deutsche Modus wohl das gerade Gegenteil des jamaikanischen Modus' sei, bestätigt Stokes weiterhin grinsend, er stellt aber klar, dass dies ein Kompliment sei. Denn ohne die neue Einstellung hätten sie es nicht geschafft. Sie standen fortan früher auf, arbeiteten länger und achteten auf Details. German nannten sie das ganze natürlich wegen der weltbekannten German Gründlichkeit, aber auch, weil in ihrem Sport schon immer die Deutschen die Besten waren (bis auf Sotschi 2014, wo sie leer ausgingen, was aber einen gründlichen Anfall an Arbeitswut mit neuer Favoritenstellung für 2018 zur Folge hatte). Stokes und sein Team reisten noch dreimal zu Olympia, in Lillehammer wurden sie zweimal Zehnte, "das ist es, worauf ich stolz bin", sagt Stokes.

Blamage entfacht Ehrgeiz

Aber er weiß auch, dass ein zehnter Platz keine Geschichte ist, die sich die Leute immer wieder erzählen: "Die handeln mehr von romantischen Vorstellungen, von falschen Idealen, wie man zu sein hat."

Die Blamage von Calgary entfachte also karibischen Ehrgeiz und setzte das Fundament für einen stabilen Verband und ein neues Cool Running 2018, das gar nicht mehr so cool ist. Denn Fenlator erreichte schon Weltcup-Podestplätze als US-Pilotin. Und Anschieberin Carrie Russell war bereits Sprintstaffel-Weltmeisterin mit Jamaika und ist jetzt manchmal sogar einen Tick zu ehrgeizig.

So kommt's, dass eine deutsche Trainerin einer jamaikanischen Bob-Anschieberin kurz vor Olympia klar macht, dass sie sich nicht so verkrampfen soll.

"Tu einfach, was du am besten kannst, dann wird das schon", sagt Kiriasis zu Russell, "renn', Carrie! Renn' einfach diesem Bob hinterher!"

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