Es gibt nun dieses Foto von Ja Morant: ein Bild des Leids, wie Jesus Christus in den Armen von Maria Magdalena auf dem Gemälde von Annibale Carracci. Morant liegt auf einem Klappstuhl, das Handtuch um die Schultern drapiert, den Kopf seitlich nach hinten geworfen, die Augen geschlossen. Festgehalten ist ein dramatischer Moment der NBA-Playoffs, weil dieser Verletzung des Anführers der Memphis Grizzlies tatsächlich eine Bedeutung fast biblischen Ausmaßes beigemessen wird - es geht um grundsätzliche Fragen im Basketball: Wann ist ein Foul unsportlich oder gar vorsätzlich hinterhältig? Und was kann man dagegen tun?
Die Playoff-Serie zwischen den Grizzlies und den Golden State Warriors ist bissig. Während der ersten Partie flog Warriors-Wühlbüffel Draymond Green wegen eines rüden Fouls vom Parkett - auch dies löste Debatten aus. Zwei Tage später musste Green nach einem Ellbogenstoß über dem rechten Auge genäht werden, Kollege Gary Payton kam nach einem Schubser von hinten mit gebrochenem Ellbogen ins Krankenhaus. Warriors-Trainer Steve Kerr nannte die Spielweise der Grizzlies "dreckig"; Green kündigte an, dass auch er schmutzig spielen könne - was aus seinem Mund etwa so klingt, als würde Kollege Steph Curry sagen, dass auch er ein paar Bälle in den Korb werfen könne.
Dann kam es in Spiel vier zu folgender Szene: Warriors-Aufbauspieler Jordan Poole verfolgt Morant, er will den Ball stibitzen, schafft es jedoch beim ersten Versuch nicht. Er probiert es noch einmal, erwischt das rechte Knie seines Gegenspielers und zieht es seitlich nach hinten. Morant verlässt das Spielfeld, begibt sich auf dem Klappstuhl in die Pietà-Pose und schreibt danach auf Twitter, dass Poole "den Code gebrochen" habe. Der Vorwurf also: Poole habe ihn vorsätzlich verletzt oder zumindest eine schlimme Verletzung bewusst in Kauf genommen. So was tut man nicht.
Wann ist ein Foul wirklich schmutzig? Darüber debattiert die NBA nach der Aktion gegen Ja Morant
Den Eintrag hat er mittlerweile gelöscht, der Streit aber bleibt. Vor allem deshalb, weil Morant die fünfte Partie am Montagabend verpasste, Poole jedoch spielte. Die Warriors gewannen ein spannendes Spiel 101:98 und führen in der Viertelfinalserie mit 3:1 Siegen. 45,7 Sekunden vor dem Ende gingen sie zum ersten Mal in Führung, Currys Treffsicherheit und Greens Defensivkünste waren die entscheidenden Faktoren. Und natürlich das Fehlen von Morant bei den Grizzlies.
Morant hatte in diesen Playoffs andere Bilder geliefert, zu denen es keinerlei Vergleiche mit Gemälden gibt, weil wohl auch Universalgenie Michelangelo kaum ahnen konnte, dass ein Basketballer ohne Hilfsmittel so würde schweben können: Morant stürmte um die Gegenspieler herum wie ein tasmanischer Teufel, hob ab und trotzte physikalischen Gesetzen mit seinem Körper, aber auch mit den Flugkurven des Balles, den er aus ungewöhnlichsten Winkeln in den Korb bugsierte.
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Wer den 22-jährigen Morant so zocken sieht, der muss an Michael Jordan denken, dessen Schwebezustandlogo eine weltweit bekannte Marke geworden ist. Und an Allen Iverson, den letzten echten Straßenbasketballer der NBA bis zu Morant, dessen Werdegang als Hinweis dient, dass nicht jeder im Alter von drei Jahren mit dem Ballspielen beginnt. Und von da an sein Leben dem Profisporttraum unterordnet, ehe er einen mittleren sechsstelligen Betrag in Privatstunden investiert.
Morants Spielweise ist aufregend, aber auch ein Risiko für seinen Körper
Morant ist ein Spektakel, weil er seit der Wahl zum Neuling des Jahres 2020 die Zockerei professionalisiert und seinem Basketballspiel Varianten wie Distanzwürfe hinzugefügt hat. Die Spielweise ist aufregend, aber auch gefährlich, weil er dauernd von mehreren Gegenspielern attackiert wird, bei den Überflügen auf andere Akteure prallt und oft ohne Balance landet.
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Die NBA vermarktet dieses Spektakel. Sie schützt ihre Spieler durch strengere Regeln als in den 1980er Jahren, als so macher Profi seinen Gegner per Kneipenschlägereischwingern vom Spielfeld beförderte, ohne eine Sperre fürchten zu müssen. Die NBA will aber auch nicht als Weichei-Liga gelten, in der nichts mehr erlaubt ist, deshalb gibt es den schrecklichen Begriff "Playoff-Foul". Der soll bedeuten: Jetzt, da es um den Titel geht, darf man ruhig ein wenig ruppiger spielen, auch wenn im offiziellen Regelwerk nichts davon steht - aber was genau heißt das? Das ist Gegenstand der Debatte, und darum dreht sich die Diskussion um den "Code", den Morant nach seiner Verletzung erwähnte.
Wenn Green seinen schwebenden Gegenspieler am Trikot zerrt; wenn Grizzlies-Spieler Dillon Brooks den springenden Warrior Gary Payton jr. von hinten schubst; wenn der Ellbogen im Gesicht von Green landet; wenn Morant das Knie verdreht: Sind das womöglich absichtliche Unsportlichkeiten oder "Playoff-Fouls"? Es gibt keine Antwort darauf, weil es keine klaren Regeln gibt, jeder interpretiert die Szenen anders. Die Schiedsrichter entscheiden nach Betrachten der Videos. Sie werden dafür kritisiert - egal, wie sie das Reglement auslegen. Die Grauzone für "Playoff-Fouls" ist so groß wie das Spielfeld. Die NBA sollte sie dringend verkleinern, im Interesse aller Beteiligten.
Morant verfolgte diese vierte Partie hinter der Ersatzbank seiner Grizzlies im grauen Pulli, Kapuze über dem Kopf. Die Pose: traurig, mit verschränkten Armen vor der Brust. Er sah aus wie Franz von Assisi im Gemälde von Carraci. Es ist darauf auch ein Engel mit Flügeln zu sehen, bereit zum Losfliegen. Zu Spiel fünf am Mittwoch könnte Morant wieder einsatzfähig sein.