Natürlich hilft es, dass die Azzurri neuerdings wieder gewinnen. Aber wichtiger ist, dass sie im In- und Ausland eine gute Figur machen. Und Prandelli ist ein Nationaltrainer, der nicht nur für eine bessere Mannschaft arbeitet, sondern ganz demonstrativ auch für ein besseres Land. Wer sich in seinem Verein schlecht benimmt, den lässt er nicht mitspielen. Daniele De Rossi bekam von ihm eine Auszeit verordnet, ebenso Mario Balotelli. Aber auch Aussetzer außerhalb des Platzes werden geahndet. So musste sich Antonio Cassano nach seiner Attacke gegen Homosexuelle schriftlich entschuldigen. Prandelli selbst hatte in einem Vorwort zu dem Buch eines Homosexuellen-Aktivisten geschrieben, er wünsche sich, dass auch im Sport kein Platz mehr sei für sexuelle Diskriminierung.
Wie andere Nationalmannschaften auch haben die Azzurri Auschwitz besucht. Prandelli hatte zu diesem Besuch italienische Überlebende eingeladen, Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Rom, die 1943 von den deutschen Besatzern deportiert worden waren. Beim Gespräch der Spieler mit den hoch betagten Auschwitz-Überlebenden kam es zu bewegenden Szenen. Erschüttert entschuldigte sich Kapitän Gianluigi Buffon dafür, dass er sich in der Vergangenheit mit rechtsextremen Symbolen gezeigt hatte. Aus Unwissenheit, beteuerte Buffon.
Im November 2011 ließ Prandelli die Nationalelf in Kalabrien trainieren - auf einem Platz, der einst einem Boss der Mafia-Organisation 'Ndrangheta gehört hatte. Der Staat hatte das Gelände konfisziert, jetzt wird Fußball darauf gespielt. Die Aktion der Azzurri stand unter dem Motto: "Ein Tritt gegen die Mafia." Das saß, in einem Land, in dem Antimafia-Journalisten in den Untergrund abtauchen müssen und in dem bis dato Politiker noch nicht einmal unter Mafia-Verdacht zurücktraten.
Und doch schien das Engagement des Trainers Makulatur zu werden, als die Azzurri kurz vor dem Turnier von einem Wettskandal überrollt wurden. Die Polizei erschien im Trainingslager, durchsuchte das Zimmer des Spielers Domenico Criscito. Prandelli entschied umgehend, Criscito aus dem Kader zu streichen, den ebenfalls verdächtigten Leonardo Bonucci aber nahm er mit.
Als dann noch Gigi Buffons Millionenzahlungen an ein Wettbüro in Parma ruchbar wurden, holte der Coach die große Keule heraus: "Wenn es hilft, fahren wir nicht zum Turnier. Es gibt Wichtigeres als Fußball." Da wirkte Prandelli zum ersten Mal überfordert. Aber seine Provokation zeigte Wirkung. Die Squadra fuhr zur EM, jetzt demonstrativ unterstützt auch von einer Regierung, deren Chef Mario Monti nur Tage zuvor angeregt hatte, den Fußballbetrieb mal zwei, drei Jahre ruhen zu lassen. Zum Zwecke der Selbstreinigung.
Das Gepäck, mit dem die Italiener ins Halbfinale treten, wiegt also schwer. Und doch predigt ihr Trainer: "Fußball soll Spaß machen. Die ernsthaften Dinge sind ganz andere." Prandelli weiß, wovon er spricht. Als 2004 seine Frau an Krebs erkrankte, kündigte er den soeben unterzeichneten Vertrag mit dem AS Rom und pflegte sie bis zu ihrem Tod.
Wie soll man gegen so einen gewinnen? Nun, zum Glück ist der Lombarde kein Heiliger. Als Mittelfeldspieler bei Juventus Turin war Prandelli ein ziemlicher Treter, ein Star wurde er nie. Als Trainer brachte er den AC Florenz zwar in die Champions League, aber schöner Fußball sah auch damals schon anders aus. Er schmiert sich manchmal zu viel Gel in die Haare und trägt weder den flotten Schnitt noch die schönen Hemden von Jogi Löw.
Nach jedem Sieg pilgert er Kilometer weit in polnische Wallfahrtskirchen - da steckt womöglich mehr dahinter, wer weiß, was der Mann alles zu beichten hat. Er neigt zur Selbstgefälligkeit wie die meisten Gutmenschen und er hat seinen Sohn als Fitnesstrainer bei den Azzurri untergebracht, als sei die Nationalelf ein Familienunternehmen. Aber alles in allem: ein Supertyp.