Italiens Stürmer Antonio Cassano:Dämon der Azzurri

Sehenswert ist das italienische Spiel bei der Fußball-EM. Doch zur Vollendung fehlen Tore. Die Hoffnungen liegen jetzt auf Stürmer Antonio Cassano, für dessen unzählige Eskapaden und Affären die Italiener sogar einen eigenen Begriff erfunden haben. Doch auf dem Fußballplatz ist Cassano ein Meister der Eingebung und des Improvisierens.

Birgit Schönau

Zwölf Kilometer im Regen. Zu Fuß, morgens um fünf. Aber was tut man nicht alles als italienischer Nationaltrainer per grazia ricevuta, für die erhaltene Gnade? Nach dem Viertelfinalsieg gegen England hat Cesare Prandelli sich nicht nur bei seiner Mannschaft bedankt. Kaum, dass er aus Kiew wieder in Krakau gelandet war, pilgerte er zur Wallfahrtskirche der Göttlichen Barmherzigkeit. Und wer weiß, ob der tief religiöse Commissario Tecnico nicht auch um himmlischen Beistand für das Halbfinale am Donnerstag gebetet hat. Die Squadra Azzurra spielt endlich sehenswerten Fußball. Aber noch fehlt ihr zur Vollendung etwas Fundamentales: Tore.

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Antonio Cassano hat im EM-Viertelfinale seiner Italiener gegen England den Ball im Blick.

(Foto: AFP)

Ein Torregen gegen Deutschland würde daheim in Italien vermutlich Massenwallfahrten auslösen. "Mamma, wir haben das Tor verloren", klagte am Dienstag die Gazzetta dello Sport. Tatsächlich sieht es bisher so aus, als hätte ein böser Dämon den Azzurri das gegnerische Tor versperrt. Vier Treffer in vier Spielen - einmal abgesehen von den Elfmetern gegen England - das ist schon bemerkenswerter Minimalismus für einen Halbfinalisten.

Ausgerechnet die Erfinder des Effizienzfußballs ernten weniger als sie gesät haben, doch was aussieht wie ein Treppenwitz der Fußballgeschichte, ist vielleicht nur der Kollateralschaden tiefgreifenden Wandels. Nur ein einziger Treffer gelang aus dem Spiel heraus, das 1:0 gegen Spanien von Antonio Di Natale. Ansonsten: Cassano und Balotelli trafen nach Eckstoß von Pirlo. Und natürlich Meister Pirlo selbst, mit einem Freistoß gegen Kroatien.

Mit den Toren ist es wie mit dem Regen, sie fallen oder sie fallen nicht. Italiens führende Regenmacher heißen Mario Balotelli und Antonio Cassano. Sie tanzen und tanzen, sie drehen und wenden sich, aber es kommt kein Tropfen. 50 Torschüsse hatte Italien laut Uefa-Statistik, mehr als Spanien (44), Deutschland und Portugal (33). Nur zwölfmal zielte Balotelli aufs Tor, lächerliche sechsmal Cassano. Aber während das Jungtalent Balotelli offensichtlich an der Last der Erwartungen und an der neuen Verantwortung als Nationalspieler trägt, hat Cassanos Blockade wohl ganz andere Gründe.

Mit drei Toren ist der 29-jährige Milan-Stürmer schon Italiens Torschützenkönig bei Europameisterschaften. Was allerdings mehr über die Europa-Erfolge (einziger Titelgewinn 1968) der Azzurri aussagt als über Cassano. Dass Prandelli ihm eine Chance gab, liegt nicht nur an der Statistik. Der Nationaltrainer hatte schlicht Probleme, die Offensive zu besetzen. Di Natale gefällt Prandelli nur als Notlösung, ist es der Torjäger von Udinese Calcio doch gewöhnt, dass die Mannschaft auf ihn zugeschnitten wird.

Antonio Cassano gilt da als viel anpassungsfähiger. Er ist ein Meister der Eingebung und des Improvisierens, und er braucht dafür extrem wenig Platz. Sein Spitzname "Fantantonio" bezieht sich auf den Einfallsreichtum des Süditalieners. Doch dieses Turnier bestreitet Cassano nicht in Topform. Im November 2011 wurde der Spieler am Herzen operiert, Ende April spielte er wieder für den AC Mailand. Die Rekonvaleszenz erfolgte in Rekordzeit, aber natürlich spielt Antonio Cassano noch sehr untertourig.

Er selbst ist zuversichtlich. Der Anfang ist ja gemacht, mit dem Kopfballtor gegen Irland. "Ich bin zwar nur einen Meter und noch was groß", scherzt der 175 Zentimeter lange Cassano, "aber manchmal zählt Schläue mehr als Körpergröße."

Außerhalb des Platzes schlägt er gerne über die Stränge, seine Eskapaden sind derart sprichwörtlich, dass man einen eigenen Begriff dafür gefunden hat: Cassanate, eine Kombination aus Cassanos Nachnamen und dem italienischen Wort für Dummheiten. Die vorerst letzte Cassanata war Cassanos Ausfall gegen Homosexuelle. "Schwule in unserer Mannschaft?", hatte er gesagt: "Ich hoffe nicht. Aber wenn es Schwule gibt, ist das ihr Problem." Nur Stunden später entschuldigte sich Cassano. Schriftlich, offensichtlich unter hilfreicher Einwirkung von Trainer Prandelli.

Auf jede Dummheit folgt eine reumütige Entschuldigung

Wirklich bemerkenswert aber war, dass er Tage später selbst noch einmal auf das Thema zurück kam. "Ich habe jetzt erst verstanden, wie schwer meine Worte wiegen", erklärte er. "Was ich da gesagt habe, war einfach so dahin gesagt." Aber er sei weit davon entfernt, Homosexuelle beleidigen zu wollen. "Und wenn ich die schriftliche Entschuldigung auch nicht selbst verfasst habe, so gibt sie doch das wieder, was ich denke."

Das ist ziemlich typisch für Cassano. Auf jede Cassanata folgt die reumütige Entschuldigung, immer in einem derart zerknirschten Ton, dass man denken muss: Der meint es ehrlich. Egal, ob er gegenüber einem Gegenspieler ausgerastet ist oder gegen den Schiedsrichter - hinterher entschuldigt Cassano sich immer. Und dabei spart er nicht mit Selbstkritik. Nicht immer allerdings hat sein Gegenüber dafür Verständnis. Bei Real Madrid flog er raus, weil er sich mit seinem einstigen Förderer Fabio Capello überworfen hatte, bei Sampdoria Genua schickte er seinen Präsidenten zum Teufel - ebenfalls Rauswurf.

Der Trainer Marcello Lippi ließ Cassano erst gar nicht hinein, er berücksichtigte ihn 2006 und 2010 nicht fürs WM-Aufgebot. Deshalb hat der Stürmer aus Apulien bisher noch nie eine WM bestritten, dafür spielt er jetzt aber schon die dritte Europameisterschaft. An seiner Seite einer, der genauso zur Cassanata neigt wie er selbst - Mario Balotelli. Die beiden sollten Italiens Duo Infernale sein. Aber noch sind sie brav. Verdächtig brav.

"Ich bin nicht der geborene Anführer", hat Cassano kürzlich gesagt. "Ein Anführer rennt mehr als die anderen, ich aber nicht. Ein Anführer kann demütig sein, ich nicht. Ein Anführer steht immer parat, ich denke nicht daran."

Und wenn er gegen Deutschland plötzlich doch ein Anführer würde? Denn Antonio Cassano weiß, dass diese Chance die letzte sein könnte. Wenn er sie jetzt nicht ergreift, wird er 2014 zu Hause bleiben, und bis zur nächsten EM wäre es dann sowieso zu spät. Im Halbfinale gegen Deutschland wird sich auch seine persönliche Karriere entscheiden, kurz vor seinem 30. Geburtstag. Antonio Cassano ist am 12. Juli 1982 geboren, wenige Stunden nach dem WM-Finale in Spanien. Wenige Stunden nach Italiens 3:1-Sieg gegen Deutschland. Ein Zufall natürlich. Aber auch dieser Zufall wird den Pilgersmann Prandelli in seinem Trainerherzen bewegen.

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