Süddeutsche Zeitung

Squadra Azzurra im EM-Viertelfinale:Schludrige Exzentriker retten Italien

Die Italiener fühlen sich krumm und neben der Spur. Die tapsigen, tapferen Iren versuchen tatsächlich so etwas wie Angriffsfußball. Am Ende schießen zwei umstrittene Stürmer die "Squadra Azzura" ins EM-Viertelfinale. Die muss sich aber deutlich steigern, um eine Chance zu haben.

Birgit Schönau

Sie waren das Duo Infernale der italienischen Vorrunde. Zwei Stürmer voller Allüren, aber ohne ein einziges Tor: Antonio Cassano und Mario Balotelli. Zwei begnadete Exzentriker, schläfrig und schludrig. Zwei Retter des Vaterlandes. Denn Cassano und Balotelli beförderten Italien ins Viertelfinale: mit ihren Toren zum 2:0 gegen Irland.

Dabei sah Cassano nicht viel besser aus als sonst: Er wartete auf lange Bälle, anstatt sich ins Getümmel zu werfen, er ging an der irischen Strafraumgrenze spazieren, während seine Kollegen immer hektischer nach jenem Angriffsschema suchten, das gegen Spanien und lange Zeit auch gegen Kroatien so gut funktioniert hatte. Jetzt aber nicht. Nichts klappte, nichts lief, bis zu dieser Ecke in der 36. Minute. Pirlo drehte den Ball auf Cassano, der beförderte ihn per Kopf zunächst an die Latte. Und dann fiel der Ball hinter die Linie, knapp, aber deutlich. Die Italiener hielten den Atem an, sie trauten sich erst nicht, loszujubeln - bis Schiedsrichter Cakir nach kurzer Beratung mit dem vierten Mann entschied: Tor. 1:0 für Italien, die Azzurri gingen sogar als Gruppenerster in die Pause.

Und doch war dieser krumme Treffers Cassano symptomatisch. Ebenso krumm und neben der Spur fühlten sich die Azzurri, weil sie in diesem Spiel gar nicht mehr Herr ihres Schicksals waren. Denn Schicksal spielten zeitgleich die anderen, Spanier und Kroaten. Wenn die sich 2:2 getrennt hätten, hätte das für Italien das Aus bedeutet. Im Vorfeld blühten deshalb die Verschwörungstheorien: Würden die Gegner sich zusammentun?

Irlands Trainer Trapattoni war bei diesen finsteren Rechenspielen außen vor geblieben, schließlich war sein Team nach zwei Niederlagen mit sieben Gegentoren bereits ausgeschieden. Dass der vielleicht letzte internationale Auftritt des 73-Jährigen ausgerechnet gegen die Azzurri seines einstigen Zöglings Cesare Prandelli stattfand, war für Trapattoni eher ein Albtraum: "Um Himmels willen, bloß kein Entscheidungsspiel gegen Italien, habe ich gebetet."

Doch das Entscheidungsspiel war da, so schicksalsträchtig, wie es nur der Fußball ausbrüten kann. Prandelli, einst bei Juventus Turin Reservist für den ungleich talentierteren Marco Tardelli, bestritt nun "das Spiel meines Lebens": gegen seinen früheren Juve-Trainer Trapattoni und dessen Assistenten Tardelli. Nachher sagte Prandelli vielleicht eine Spur zu zufrieden: "Wir haben mit allen Kräften diesen Sieg gewollt. Wir haben begriffen, dass wir nicht nur Technik und Qualität, sondern auch das Herz einsetzen müssen. Wir müssen im Viertelfinale so spielen, wie wir es heute getan haben."

Sehr ehrenhaft verteidigten die Iren diesmal nicht nur gegen die zerstreut attackierenden Italiener, sie versuchten tatsächlich so etwas wie Angriffsfußball. Das sah etwas tapsig aus und rührend harmlos, versetzte aber die unverdrossen feiernden irischen Fans zeitweise in Ekstase. Und die nervösen Azzurri zeitweise in leichte Panik. Damien Duff forderte Torwart Buffon heraus, Robbie Keane den nach Verletzungspause zurück gekehrten Juve-Verteidiger Andrea Barzagli. Verkehrte Welt: Irland trat entschlossener auf als Italien. Ganz so, als müssten die Iren unbedingt gewinnen und als sei den Italienern sowieso alles egal.

In seiner Not hatte Prandelli just gegen die zahnlosen Iren auf jene aparte Dreier-Abwehr verzichtet, die Spanien verwirrt und Kroatien zeitweise entwaffnet hatte. Im entscheidenden Spiel wollte der Commissario Tecnico auf Nummer sicher gehen - die Viererkette aus der EM-Qualifikation musste her, mit Barzagli und Chiellini, sowie Balzaretti und Abate. De Rossi wurde aus der Abwehrmitte auf seine angestammte Position im Mittelfeld vorgezogen. Im Sturm spielte der Veteran Di Natale für Balotelli, der sich im Training verletzt hatte.

Mit dieser konservativen Revolution wollte Prandelli dem Team Sicherheit gewähren, bewirkte aber das Gegenteil: So nervös, hölzern und langweilig waren die Italiener bei dieser EM noch nicht aufgetreten. Kein Temperament, keine Spielfreude, kein Siegeswillen, einzig Marchisio und De Rossi ließen sich im Mittelfeld nicht die Butter vom Brot nehmen. Ansonsten wirkten die Italiener bereit zum Verlieren aber nicht zum Gewinnen. Das Gesicht von Andrea Pirlo sagte alles: müde vor der Zeit.

Erst in der letzten halben Stunde traute sich Prandelli endlich was. Für Chiellini kam Bonucci, vor allem aber ersetzte der quirlige Diamanti (Bologna) den Torschützen Cassano und später Balotelli den diesmal biederen Di Natale. Ausgerechnet der viel kritisierte Balotelli war es, der seinen Landsleuten die Erlösung schenkte: das 2:0 kurz vor Schluss. Und Trapattoni räumte ein: "Italien war uns natürlich überlegen. Es gibt viele Aspekte, in denen wir uns noch verbessern müssen" - aber nicht mehr bei dieser EM.

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SZ vom 19.06.2012/jab
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