Italien bei der EM:Spaßfußball statt Gladiatorengemälde

Italy v Czech Republic - International Friendly, Länderspiel, Nationalmannschaft Domenico Berardi of Italy celebrates wi; x

Azurblauer Dreizackjubel: Italiens Angreifer Ciro Immobile, Domenico Berardi und Lorenzo Insigne (von links).

(Foto: Nicolo Campo/Imago)

Italiens Nationalelf erfährt durch Trainer Mancini einen jähen Kulturwandel - mit einem Angriffstrio aus dem Süden: Immobile, Insigne, Berardi.

Von Oliver Meiler

In Italien, dem Paradeland der fußballerischen Ergebnisergebenheit, des fast absoluten Resultats-Zynismus, huldigen sie jetzt plötzlich dem schönen und offensiven Spiel, dem "bel gioco" ihrer Nationalmannschaft. Der Kulturwandel ist so dramatisch und vergleichsweise jäh, dass alle versucht sind, an eine Revolution zu glauben - kleiner geht es ja selten. Roberto Mancini, der Commissario Tecnico, brachte es auf eine philosophische Grundmaxime: "Lasst uns mit Spaß spielen, damit die Italiener Spaß haben - sie haben es verdient."

Die Zeiten des Catenaccio, des Riegelfußballs, sind schon lange vorbei. Mauern, warten, kontern: Das war einmal. Der Fußball hat sich fundamental verändert, und "Mancio" stülpt die Moderne auf eine italienische Mannschaft ohne Stars, als Matrix: Ballbesitz, Spieldominanz, Herrschaft über das eigene Schicksal. Die Einzelnen sind auswechselbar, die Idee ist der Stern. So jedenfalls geht das optimistische Narrativ nach dem 3:0-Auftaktsieg der Elf des Trainers Mancini gegen die Türkei. Schon im zweiten EM-Spiel gegen die Schweiz (Mittwoch, 21 Uhr) kann der Aufstieg ins Achtelfinale gelingen, und die Italiener sind ein unbedingt begeisterungsfähiges Volk.

Seit 875 Minuten hat diese Italien-Abwehr kein Tor mehr kassiert

In Mancinis Matrix spielt der Angriff die zentrale Rolle. Sein 4-3-3-Muster wandelt sich in der Vorwärtsbewegung fast immer zu einem wirbligen 3-2-5 mit stürmenden Außenverteidigern, manchmal auch zu einem 2-3-5. Klar, hinten stehen zwei "Senatoren" aus spielkulturellen Vorzeiten: Giorgio Chiellini, 36, und Leonardo Bonucci, 34, beide von Juventus Turin, beide alte Innenverteidiger-Schule. "Zusammen sind sie 70", schrieb eine Zeitung neulich. Das Tor füllt ein großer und massiver Mann aus, Gianluigi Donnarumma, 22, der die Zukunft frontal angeht, mit der Überzeugung eines Routiniers. Seit 875 Minuten hat diese Italien-Abwehr kein Tor mehr kassiert, seit neuneinhalb Begegnungen. Bei aller Freude am schönen Spiel: Sicher ist sicher.

Doch alles schaut auf die Herrschaften in den vorderen Gefilden - auf den "Tridente meridionale", den Dreizack aus dem Süden. Alle drei Angreifer kommen aus dem Mezzogiorno. Der Süden reißt das Land mit, auch das ist eine wunderbare Fügung, ziemlich zufällig natürlich - aber wer mag in solchen Dingen schon an Zufälle glauben?

Der Rechtsfüßer wirbelt am linken Flügel, der Linksfüßer am rechten Flügel

Da wäre erstens Lorenzo Insigne, Rechtsfüßer auf dem linken Flügel, 31 Jahre alt, aus Frattamaggiore im Norden Neapels, angestellt beim SSC Napoli, 1,63 Meter groß. Sie nennen ihn "genietto", kleines Genie, weil er Räume sieht, die andere übersehen und weil er den Ball oft mit erstaunlichem Schlenzdrall auf die Flugbahn schickt. Er trägt die "10", er gibt den offensiven Regisseur der Nazionale. Stürmen die Außenverteidiger mit, rückt er in die Mitte. Auf den linken Oberschenkel ließ sich Insigne einen großen, sehr entschlossen dreinschauenden Diego Armando Maradona tätowieren - ein bisschen Verneigung, ein bisschen selbstempfundene Erbverantwortung.

Insigne kommt aus armen Verhältnissen. Als er acht Jahre alt war, erzählte er einmal, habe sein Vater den Beitrag für den örtlichen Fußballverein und für die Ausrüstung nicht bezahlen können. Der Klubpräsident sah es ihnen nach, der Kleine machte alles mit seinem Talent wett. Lorenzo musste schon früh arbeiten, damit die Familie durchkam, als Verkäufer auf dem Markt. Die erste wirkliche Chance gab ihm ein tschechischer Meister des Spaßfußballs: Zdenek Zeman, damals Trainer beim Serie-B-Verein Pescara, der holte ihn 2011 in die Abruzzen. Und wenn sich nun alle immer an jenes Pescara erinnern, liegt das daran, dass Zeman in dem memorablen Team, das damals den Aufstieg schaffte, auch den Mittelfeldspieler Marco Verratti und den Mittelstürmer Ciro Immobile lancierte, zwei weitere Stützen der heutigen Nationalmannschaft.

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Enge Freunde und Torschützen: Ciro Immobile (links) und Lorenzo Insigne treffen beide bei Italiens 3:0 im EM-Auftakt gegen die Türkei.

(Foto: Mike Hewitt/Getty Images)

Immobile, 31, kommt aus Torre Annunziata, einer Vorstadt im Süden Neapels, nicht weit von Sorrento, wo er seine ersten Schritte im Sport machte. Der Verein schenkte ihm eine Jahreskarte des Lokalzugs "Circumvesuviana", damit er blieb. Doch schon früh interessierten sich große Vereine für ihn. Seit ihrer Zeit in Pescara sind Immobile und Insigne enge Freunde, sie nennen sich "Brüder", falsche Zwillinge. Auch ihre Frauen, Jessica und Jenny, sind sich sehr nahe, und das Land verfolgt ihre Nähe in den sozialen Medien. Immobile muss dauernd allen beweisen, dass er seinen Platz im Team verdient, bei seiner Torproduktion ist das schon einigermaßen verwunderlich. Vor einem Jahr war er Europas bester Goalgetter, und das als Stürmer von Lazio Rom, das muss man erst mal schaffen. Immobile gilt als Geradeaus-Angreifer, als klassischer, fast altmodischer Neuner: immer im Vorwärtsgang und hart am Abseits, intuitiv und schnell. Mit dem Rücken zum Tor ist er höchstens Mittelmaß.

Darum muss er ständig die Konkurrenz fürchten, vor allem Andrea Belotti, mit dem er im Teamcamp in Coverciano das Zimmer teilt. Auch sie: Freunde, seit sie beim FC Turin zusammenspielten. Als Immobile gegen die Türken im Stile Paolo Rossis zum 2:0 getroffen hatte, sprang Belotti von der Ersatzbank auf, sprintete über das ganze Feld, um den Rivalen zu herzen. Der Spirit im Team war selten besser.

Domenico "Mimmo" Berardi, 26, aus dem kalabrischen Cosenza, Linksfüßer auf dem rechten Flügel, komplettiert den "Tridente". Als Kind gehörte er Inter Mailand an, mit 12 wollte ihn Juventus zu sich holen. Als der Jugendverantwortliche der Turiner bei ihm zuhause vorbeischaute, versteckte sich "Mimmo" - buchstäblich. Die Szene sollte sich im Verlauf seiner Karriere oft wiederholen. Juve buhlte jahrelang um Berardi, er sagte aber immer Nein.

50 Millionen Euro will Sassuolo für Berardi

Als er 15 war, besuchte Berardi einmal seinen Bruder in der norditalienischen Emilia, der dort studierte. Man spielte "Calcetto", fünf gegen fünf, unter Freunden. Ein Scout von der Unione Sportiva Sassuolo schaute zufällig zu. Seitdem spielt Berardi in der emilianischen Provinz. In Sassuolo ist er der Star, ein wuchtiger Powerläufer, dribbelstark und fintenreich, sehr modern. Aktuell interessieren sich offenbar gleich drei Vereine aus der Premier League für ihn: Arsenal, Manchester United, vor allem aber Tottenham. Das kommt nicht von ungefähr. Die Spurs haben einen neuen Sportdirektor: Fabio Paratici, der davor viele Jahre lang in derselben Funktion bei Juve der Chefbuhler Berardis war. 50 Millionen Euro will Sassuolo für "Mimmo", der seinem kleinen, hübschen Ambiente schon lange entwachsen ist.

Das Spaßtrio der Azzurri beflügelt auch die Gazzetta dello Sport, sie bemüht einen waghalsigen cinematographischen Vergleich: "Es herrscht gerade eine Leichtigkeit wie aus 'Vacanze romane'", schreibt das Blatt - so heißt eine Hollywood-Romanze aus dem Jahr 1953, die in Rom spielt. In der deutschen Übersetzung wurde daraus "Ein Herz und eine Krone". Vorne auf der Vespa sitze Mancini, hinten die Mannschaft - wie Gregory Peck und Audrey Hepburn in der berühmtesten Szene des Films, schreibt die Gazzetta. Früher, vor dem Kulturwandel, passten Heldenepen mit Gladiatoren im Kolosseum besser, als Schlachtallegorie. Nun also: Gregory Peck und, ja, Audrey Hepburn!

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