Italien:Freiheit für einen Freigeist

Photo Massimo Paolone/LaPresse November 28, 2020 Reggio Emilia, Italy soccer Sassuolo vs Inter - Italian Football Champi

Nicht aufzuhalten: Domenico Berardi (rechts) von US Sassuolo dribbelt ungestört an Alessandro Bastoni von Inter vorbei.

(Foto: Massimo Paolone/imago images/LaPresse)

US Sassuolo ist in Italien die Mannschaft der Stunde. Das liegt am schwer zu zähmenden Angreifer Domenico Berardi - und an einem revolutionären Trainer

Von Thomas Hürner

Eigentlich sollte er die Emilia-Romagna längst verlassen haben, in Richtung Norden, zu einem der ganz großen Klubs. Aber Talent ist manchmal nicht genug. Die tollsten Elogen können verhallen, ehe man sich dann doch wieder an ihren Klang erinnert: Domenico Berardi, 26, galt einmal als der begabteste Offensivspieler Italiens, dann als Gescheiterter, jetzt kickt er im besten Fußballeralter immer noch bei der vermeintlich grauen US Sassuolo. Und zwar besser denn je, wie die Gazzetta dello Sport neulich feierlich feststellte: "Il miglior Berardi di sempre."

Das kleine Sassuolo ist in Italien so etwas wie die Mannschaft der Stunde, und nicht zufällig ist Berardi gerade einer der Spieler der Stunde. An diesem Sonntag empfangen die Neroverdi, die Schwarzgrünen, die AS Roma zum zweite Spitzenspiel innerhalb kürzester Zeit. Das erste ging in der Vorwoche zwar verloren, 0:3 gegen Inter Mailand, trotzdem hat Sassuolo einen respektablen Saisonstart hingelegt. Platz drei in der Tabelle, und nicht ganz unbedeutend: mit den bislang drittmeisten erzielten Tore.

Sassuolo ist eine Kleinstadt mit etwa 40 000 Einwohnern, eigentlich biedere Fußballprovinz, aber mittlerweile eines der interessantesten Projekte in der Serie A. Und in Kapitän Berardi hat dieses Projekt ein Gesicht gefunden - wenngleich dieses Gesicht manchmal auch etwas aufbrausend sein kann. Als Fußballer lässt sich Berardi am ehesten als eine Art Mix aus Arjen Robben und Thomas Müller beschreiben: ein begnadeter, dynamischer Linksfuß und ein Raumdeuter, der sich fast unbemerkt in die gefährlichen Zonen bewegen kann. In seiner Karriere hat Berardi allerdings auch schon 60 Gelbe Karten gesammelt, sechs Mal ist er vom Platz geflogen. In Italien war er deshalb schon als Enfant Terrible verschrien. Und eigentlich schon abgeschrieben worden.

In diesem Herbst nun feierte der Angreifer seine Rückkehr in die Squadra Azzurra, sichtlich gereift, nach über zwei Jahren Absenz. Im Nationaltrikot erzielte er gleich mal zwei Treffer in zwei Spielen, einer schöner als der andere, auch in der Liga sieht Berardis Statistik wieder blendend aus: vier Treffer und drei Vorlagen in acht Partien. Wie in seinen besten Zeiten, die noch gar nicht so lange her sind.

Fußballromantik? Hinter Sassuolo steht das Bauchemieunternehmen des Präsidenten

Denn Berardi hätte ursprünglich schon längst für Juventus spielen sollen, alles war schon in trockenen Tüchern. Der Rekordmeister hatte ihn verpflichtet und per Leihe in Sassuolo gelassen, das Juwel sollte noch etwas geschliffen werden. Für die Bianconeri lief Berardi letztlich aber nie auf. Und das will etwas heißen, da Sassuolo und Juve eine sehr innige Geschäftsbeziehung pflegen: Fast jedes Jahr werden zwischen beiden Klubs munter Spieler hin- und hergetauscht, zuletzt wechselte der türkische Innenverteidiger Merih Demiral aus Sassuolo nach Turin. Sassuolo bildet aus und lässt sich das recht teuer bezahlen.

Etabliert hat diesen Kontakt der im vergangenen Jahr verstorbene Klubpräsident Giorgio Squinzi, der übrigens bekennender Milan-Anhänger war. Während seiner Ägide stieg Sassuolo von der vierten Liga bis in die Serie A auf, im Jahr 2016 konnte sich der Klub sogar erstmals für die Europa League qualifizieren. Reine Fußballromantik war dieser Aufstieg jedoch nicht: Hinter dem Klub steht immer noch Squinzis Bauchemieunternehmen, der Presidente machte aus Sassuolo so etwas wie einen Werksklub Italiens. Er investierte auch viel in die Jugendarbeit, der Klub verfügt als einer von nur wenigen in Italien über ein modernes Nachwuchsleistungszentrum. Und Berardi, der für Juve ein unkalkulierbares Risiko war, ist das bis heute spektakulärste Zukunftsversprechen, das im eigenen Hause ausgebildet wurde.

Dass der 26-jährige Berardi nun wieder spielt, wie der 21-jährige Berardi einst spielte, hat wiederum viel mit dem Trainer zu tun, den Squinzi 2018 zu Sassuolo holte: Roberto De Zerbi, 41. Als Mittelfeldspieler war De Zerbi höchstens Durchschnitt, als Mister hingegen ist er für italienische Verhältnisse von fast revolutionärem Offensivgeist. Der Coach hängt dem Glauben an, dass ausschließlich der Ball diesem Spiel einen Sinn verleiht, weshalb seine Spieler den Ball möglichst immer haben und entsprechend liebevoll behandeln sollen. "Ich bewundere De Zerbi", sagte die italienische Trainerlegende Arrigo Sacchi kürzlich, ein bekennender Anhänger des schönen Spiels. Und Pep Guardiola erkannte schon vor etwa zwei Jahren: "De Zerbi hat bei Sassuolo einen proaktiven und wirklich bedeutungsvollen Stil geschaffen."

Freigeister bekommen unter De Zerbi ihre Freiheiten, davon profitiert nicht nur Berardi. Auch der versierte Spielmacher Manuel Locatelli, 22, ausgebildet in der Jugend von Milan, wird von ihm besonders gefördert und hat ebenfalls schon in der Nationalmannschaft debütiert: als Regista vor der Abwehr, seine Bewegungen erinnern ein bisschen an den großen Andrea Pirlo. In den Verteidigern Kaan Ayhan (ehemals Düsseldorf) und Jeremy Toljan (ehemals Dortmund) stehen außerdem zwei frühere Bundesliga-Akteure regelmäßig in der Startelf.

Ayhan sagte jedenfalls dem Kicker kürzlich, dass Berardi es "nach ganz oben schaffen" könne. Vielleicht ja gemeinsam mit Trainer De Zerbi, fernab vom provinziellen Sassuolo, bei einem der großen Klubs in Mailand. Oder sogar doch noch in Turin.

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