Süddeutsche Zeitung

Italien bei der EM 2021:Auch Überfluss kann quälend sein

Die Italiener krempeln gegen Wales fast alles um und spielen trotzdem makellosen Fußball. Doch Trainer Mancini warnt: Es kommen nun härtere Gegner - vielleicht sogar ebenbürtige.

Von Oliver Meiler, Rom

Natürlich wird nun wieder der alte Sinnspruch aus dem "Gattopardo" von Giuseppe Tomasi di Lampedusa herbeigezogen, so etwas wie die Quintessenz für italienische Unverrückbarkeiten, im Guten wie im Bösen. "Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern." In der Politik steht die ursprünglich sizilianische Maxime für Wendehälse und Westendreher, für Meister des Opportunismus.

Die Übertragung ins Fußballerische, wie sie die Zeitung La Repubblica nun aus gegebenem Anlass bemüht, hat da schon eine noblere Note. Im letzten Gruppenspiel gegen Wales hat Italiens Trainer Roberto Mancini die Startelf auf acht Positionen verändert - und alles blieb, wie es war.

Die Azzurri gewannen erneut und kassierten wieder kein Tor: neun Punkte, 7:0 Tore, bisher bester Angriff und beste Abwehr des Turniers. Unter Mancini, das dürfte die Statistiker interessieren, hat Italien nun schon seit 30 Spielen in Serie nicht mehr verloren, das gelang zuletzt Trainer Vittorio Pozzo - vor dem Zweiten Weltkrieg. Gegentore? Bekam man seit 1055 Minuten keine mehr. Der Allzeitrekord von Dino Zoff ist nicht mehr weit entfernt: 1143 Minuten, aufgestellt zwischen 1972 und 1974. Da kommt schon einiges zusammen an guten Zahlen. Und wenn die "Mancio Boys", wie die Jungs in Mancinis Kader jetzt genannt werden, auch nicht mehr ganz so wuchtig aufspielten, so überfallartig dominant wie in den zwei ersten Gruppenspielen: Plan B war Plan A eben doch verblüffend ähnlich. Die Blaupause funktioniert.

"Alle sind Stammspieler, oder eben keiner", sagt Mancini immer wieder

"Ich war überzeugt", sagte Mancini nach dem 1:0, "dass unsere Identität dieselbe bleiben würde, obwohl wir viel änderten." Von den 26 berufenen Azurblauen hat nun nur einer, nämlich der dritte Torwart Alex Meret, noch nicht mitspielen dürfen, alle anderen erhielten ihre Minuten. Der Commissario Tecnico ist also im besten Sinn ein "Gattopardiano". Dazu passt ein anderer Satz, den er so oft wiederholt, dass er sich mit schier hypnotischer Kraft in die Köpfe der Leute brennt, von Spielern und Fans: "Alle sind Stammspieler, oder eben keiner." Das muss nicht wahr sein, dem Teamspirit ist solch meditatives Zureden aber offensichtlich zuträglich.

Zurück in der Mannschaft war zunächst einmal Marco Verratti, 28, eine Bekanntheit unter vielen Bekanntheiten bei Paris Saint-Germain, Bestverdiener unter den Azzurri. Verratti hatte in seiner Karriere oft schon Pech gehabt mit Verletzungen und Unpässlichkeiten, gerade vor und während großer Turniere. Auch diesmal wieder. Covid-19 hatte er neulich gleich zwei Mal. Vor eineinhalb Monaten holte er sich dann etwas am rechten Knie, die Nation bangte um den Ideengeber.

Nachdem sich nun aber Manuel Locatelli vom emilianischen Provinzverein US Sassuolo an seiner Stelle so prominent inszeniert hatte, mit zwei Toren und einer reichlichen Dosis Unwiderstehlichkeit gegen die Schweiz, fragte man sich in Italien plötzlich, ob die "kleine Eule", wie sie Verratti in Frankreich nennen, überhaupt noch eine Chance erhalten würde.

Nun, Verratti ist genesen und spielte gegen Wales mit der Selbstverständlichkeit grandioser Tage volle 90 Minuten: Alles lief über den offensiven Regisseur, er riss das Spiel an sich, schwirrte wie ein Scheibenwischer hinter dem Sturm, am Ende gehörte das Spiel ganz ihm. Wer soll nun am Samstag im Achtelfinale im Londoner Wembley spielen, Locatelli oder Verratti? Überfluss kann ja auch quälend sein.

Dabei war auch Matteo Pessina von Atalanta Bergamo, 24, Mittelfeldspieler, Torschütze des Abends. Seine Rückennummer war mal die 27, weil er eigentlich gar nicht zum Kader der 26 gehören sollte. Dann verletzte sich Stefano Sensi von Inter, den Mancini in seiner Rolle nominiert hatte, und so rückte Pessina nach. Inzwischen trägt er die 12 - und er war bereit: In die Ferien wäre er ohnehin noch nicht gefahren: Pessina studiert Wirtschaft an einer römischen Universität, auf Distanz, das Semester ist noch nicht um. Überhaupt ist er ein eher außergewöhnlicher Fußballer, trägt keine Tattoos, mag Latein und klassisches Ballett, seine Schwester ist Ballerina. Ein "bravo ragazzo", sagen die Italiener, eine netter Junge. Vor dem Spiel war er einer von nur fünf Italienern, die sich zusammen mit den Walisern gegen Rassismus hinknieten.

Und alle singen miteinander: "Notti magiche", die Hymne der WM 1990

Dann gab er den Überfallspieler aus der zweiten Reihe, den vierten Stürmer für das Überraschungsmoment, wie er das auch bei Atalanta gerne tut. Sein Tor entstand zwar nach einem Freistoß, doch auch da hielt er den Fuß in die Flugbahn des Balls und überraschte damit die walisische Abwehr. Getreten hatte den Freistoß: Marco Verratti. Wahrscheinlich müsste hier auch noch die Rede von Federerico Chiesa sein, dem rechten Flügel, 23, von Juventus Turin, der nach seiner erfrischenden Leistung den Plan A auch etwas aufmischt.

"Primissimi", titelt die Gazzetta dello Sport, Allererste. Doch Mancini kühlt die Erwartungen etwas herunter: "Ab heute beginnt ein neues Turnier", sagte er. Man spielt nicht mehr daheim in Rom. Jede Begegnung kann gleich auch die letzte sein. Und, vor allem: Es kommen nun wohl härtere Gegner, vielleicht sogar ebenbürtige. Etwas Kühlung tut auch den Spielern gut.

Als sie nach dem Spiel in ihr Hotel zurückkehrten, bauten sie sich draußen noch kurz als Ensemble vor den Fernsehkameras auf, für ein Ständchen. Lorenzo Insigne intonierte, dann sangen alle miteinander "Notti magiche", die Hymne von Gianna Nannini und Edoardo Bennato für die WM 1990 in Italien. Zauberhafte Nächte also. Damals endete der Zauber bitter, im Halbfinale gegen Argentinien, nach dem Roulette eines Elfmeterschießens.

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