Coronavirus:Italien entstaubt eine alte Fußball-Liebe

Cristiano Ronaldo beim Torjubel

Als noch Fußball gespielt wurde: Juve-Stürmer Cristiano Ronaldo freut sich über ein Tor

(Foto: REUTERS)
  • Man spielte es in der Bar und im "tabaccaio", in den Läden und den Lottoannahmestellen: Totocalcio.
  • Die Italiener hoffen nun in der Krise, den Fußball mithilfe des traditionellen Tippspiels finanzieren zu können.

Von Oliver Meiler, Rom

In schweren Zeiten besinnt man sich auch auf Dinge, die schon einmal über schwere Zeiten hinweggeholfen haben. Das ist wie ein Reflex. In Italien reden sie nun davon, eine alte Liebe zu entstauben, die für ein halbes Jahrhundert so sehr zum Alltag gehörte, dass sie sich wie ein Ritual durch das Leben zog: der Totocalcio, das alte Tippspiel auf Zetteln mit 13 Partien. Man spielte es in der Bar und im "tabaccaio", in den Läden mit einer Lottoannahmestelle, meistens hinten in einer Ecke. Die Kugelschreiber hingen an Schnüren, damit sie niemand klaute. 1 für den Heimsieg, X für ein Unentschieden, 2 für den Auswärtssieg.

Natürlich ist das ein Relikt aus analogen Zeiten. Doch wenn man die Gedankenspiele der Lega Calcio und des italienischen Fußballverbandes richtig deutet, dann sehen sie jetzt in einer Wiederbelebung des Totocalcio eine Chance, dem nationalen Fußball dereinst nach der Viruskrise finanziell wieder auf die Beine zu helfen. Man zählt wohl auf die Suggestivkraft des Namens, auf die nostalgische Note, die mitschwingt. Und auf das einende Gefühl, das darin atmet.

"Totocalcio 2.0", wie es probehalber genannt wird, müsste wahrscheinlich in eine digitale Form übersetzt werden. Wie genau, darüber diskutieren sie gerade. Und natürlich ist es alles andere als sicher, dass es dann gegen die modernen Sportwetten besteht, die den Totocalcio verdrängt haben: Heute wettet man ja auf Spiele aus aller Welt, gerade in Italien. Und man wettet auf viele Tore, also auf "over", oder auf wenige Tore, "under", auf gar keine Tore, auf ein einziges Tor, sogar auf die Anzahl gelber Karten pro Mannschaft, und auf den genauen Zeitpunkt der ersten Ecke kann man auch wetten.

Die Italiener sind verrückt danach. Etwa neun Milliarden Euro haben sie zuletzt insgesamt im Jahr für Sportwetten ausgegeben, fast drei Viertel davon entfallen auf den Fußball. Sie wetten auch auf zweite Ligen: die französische Ligue 2, die zweite Bundesliga, die englische Championship. Man hört jetzt Bekannte auch mal von "Darmstadt novantotto" reden, Darmstadt 98 also, von Charlton Athletic oder Luton Town. Etwas provinziell, aber das ist egal.

Und jetzt also wieder zurück? Erfunden wurde der Totocalcio 1946 von einem Journalisten der Gazzetta dello Sport, Massimo Della Pergola. Mit zwei Freunden gründete er die Firma Sisal, Sport Italia Società a Responsabilità Limitata, die es bis heute gibt. Nach zwei Jahren übernahm das nationale Olympische Komitee, das Coni, und nannte das Spiel der Freunde Totocalcio. Es sollte eine große Einnahmequelle werden. Mit einem Teil des Geldes wurden die Sportstätten wieder aufgebaut, die im Zweiten Weltkrieg verwüstet oder zerstört worden waren, die Hallen, die Stadien, die Plätze, die Leichtathletikbahnen.

"Fare tredici", wörtlich: 13 machen, wurde zum Synonym für Glück

Und es floss bald viel Geld. Alle spielten, alle sozialen Schichten, im Süden wie im Norden, auch Intellektuelle und Politiker. Der große Dichter und Regisseur Pierpaolo Pasolini tippte einmal zwölf Spiele richtig, dummerweise waren in jener Woche viele gut. "Ich hab nur 4000 Lire gewonnen", schrieb er seiner Mutter, das war tatsächlich nicht viel. "So viel zu unserem Glück."

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Auf der "schedina", dem Zettel mit den Tippspielen, standen lange nur Paarungen aus der Serie A und der Serie B. War mal die Nationalmannschaft, die Squadra Azzurra, im Einsatz, fehlten genügend Top-Spiele, dann schaffte es sogar die Serie C auf den Zettel. Da in Italien die Spiele lange alle am Sonntagnachmittag zur selben Zeit stattfanden, gab es am Abend immer die Durchsage am Radio: "Uno, uno, x, due, uno, x." Das gehörte zum Sound des italienischen Sonntags.

"Fare tredici", wörtlich: 13 machen, wurde zum Synonym für Glück. Es überlebte den Wandel der Zeit.

"Fare tredici" sagt man heute auch, wenn man Glück in der Liebe hat, Glück mit einem Job, Glück an der Börse. Glück eben. Und so klingt die Wiederbelebung des Totocalcio in diesen trüben Zeiten in den Ohren nicht weniger Italiener wie ein Versprechen.

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