Süddeutsche Zeitung

Italien bei der Fußball-EM:Giak und der Tänzer entzücken Italien

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Von Birgit Schönau, Rom

Der eine ist 1,67 Meter klein und spielt als Leihgabe des FC Sunderland für den FC Bologna. Der andere kommt auf ein Gardemaß von 1,94 Meter und kickt für den FC Southampton. Seit Emanuele Giaccherini und Graziano Pellè am Dienstag Belgien jeweils ein Tor verpassten und Italien zu einem 2:0 verhalfen, rätselt halb Europa über das ungleiche Duo. Wie konnte es geschehen, dass man diese Spieler so lange übersah? Schließlich sind beide Jahrgang 1985 und somit nicht mehr die Jüngsten. Und doch entern der kleine Giaccherini und der lange Pellè gerade zum ersten Mal die große Bühne. Für beide ist es das erste Turnier mit den Azzurri. Jahrelang waren sie Mauerblümchen in der Fußballprovinz, plötzlich sind sie Shootingstars.

Am Freitag werden Giak, wie Giaccherini in Italien genannt wird, und sein Partner Pellè wohl gegen Zlatan Ibrahimović und Restschweden antreten. In der Squadra Azzurra der vielen Unbekannten hat zwar eigentlich niemand einen Stammplatz. Aber mit zwei Buden gegen Belgien kann man sich durchaus einen Posten in der Startelf verdienen. Was Pellè angeht, erscheint er ohnehin nicht nur auf dem Rasen, sondern auch noch mal auf der Tribüne.

Seine ungarische Freundin Viky Varga trägt ihn als aufblasbare Puppe mit sich herum. Es ist die Exzentrik der Außenseiter. Italien hat, weil man wie immer bereits vor dem ersten Spiel mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, seinen Spaß daran.

Späte Genugtuung

Dass die beiden jetzt so groß herauskommen, ist eine späte Genugtuung. Den Klubs der Serie A waren Giak und Pellè nicht gut genug. Giaccherini wurde von Juventus nach England abgeschoben, gegen den Willen des damaligen Klubtrainers und heutigen Nationalcoachs Antonio Conte. Vor einem Jahr lieh Sunderland ihn nach Bologna aus, jetzt wäre der FC Turin interessiert - wenn die Ablöse nicht mit weiteren EM-Toren steigt. Dabei erzielte Giak in einer ganzen Saison in Bologna nur sieben Treffer.

Pellè wurde schon vor vier Jahren vom inzwischen in die Amateurliga abgestiegenen FC Parma an Feyenoord Rotterdam verkauft. Ungefragt, natürlich. Und dann: 57 Spiele, 50 Tore. Aus den Niederlanden ging es 2014 weiter nach Southampton. 68 Einsätze, 23 Treffer, auch er schien zuletzt nachzulassen. In der Nationalmannschaft blieben die Tore ebenfalls aus. Viel Arbeit, kein Ertrag.

Dass Conte das Duo trotzdem berief, brachte ihm viel Kritik ein: Brasilien hatte Pelé, Italien hat Pellè, ein wohlfeiler Kalauer. In seiner Jugend war der elegante Süditaliener Pellè, der wie Conte aus Apulien stammt, ein erfolgreicher Turniertänzer gewesen. Ein Tänzer in der Squadra Azzurra. Noch dazu einer, der aussieht wie Rodolfo Valentino, die Inkarnation des Latin Lovers. Ein falscher Schritt von Graziano Pellè, schon hat er Macho-Italien gegen sich. Gegen Belgien machte er keine falschen Schritte. Außerdem weiß er natürlich, dass einer wie er am Abgrund tanzt. Was heute glänzt, kann morgen schon vorbei sein.

Auch Giak weiß das nur zu genau. Als er 16 war, musste ihm nach einem harten Zusammenstoß mit dem gegnerischen Torwart die Milz entfernt werden. Giak machte trotzdem weiter, kämpfte sich durch im Profifußball, mit seiner angeschlagenen Gesundheit und seinem zähen Jungenkörper. Seine Eltern und sein Bruder sind Arbeiter aus der Provinz Arezzo in der Toskana, Monatseinkommen 1200 Euro, netto. "Wenn Emanuele des Geldes wegen eine Profikarriere angestrebt hätte, ich hätte es ihm verboten", hat die Mutter berichtet. Italien ist gerührt.

Giak und Pellè könnten, wenn das so weitergeht, die Helden der "Italia operaia" werden, des Arbeiter-Italiens. Dazu passt, dass Conte, mit 4,5 Millionen Euro netto der bestbezahlte Nationaltrainer der Geschichte, die alten Tugenden Demut und Disziplin predigt. Unterschätzt zu werden und es dann als Außenseiter den Großen so richtig zu zeigen, das ist ein italienischer Mythos. Giak und Pellè verkörpern ihn perfekt.

Der gestrenge Conte mahnt

Das Italien der Provinz kommt gerade ganz groß heraus. Conte hat Spieler aus 13 Klubs gefischt: Das gab es noch nie. Sicher, die Abwehr mit Kapitän Gianluigi Buffon, Giorgio Chiellini, Andrea Barzagli und Leonardo Bonucci stammt komplett vom Nobelklub Juventus Turin. Aber gleich fünf Spieler haben am Rande der italienischen Fußballwelt in Cesena gespielt, Giaccherini, Marco Parolo, Éder und Antonio Candreva sogar gleichzeitig. Pellè war, wen wundert es, vorher auch schon dort gewesen. Cesena als Kaderschmiede der Squadra Azzurra.

Giak und der Tänzer wollen nun ganz groß herauskommen. Zwar mahnt der strenge Conte, bloß nicht übermütig zu werden. Schweden und Irland warten, die nächsten Angstgegner! Der Weg ins Achtelfinale sei weiter hart und steinig. Der Nationaltrainer verlangt also wie immer äußerste Konzentration. Aber wie sagte Verteidiger Leonardo Bonucci nach dem Sieg gegen Belgien so schön: "Wir Italiener haben viereckige Bälle." Und damit war nicht das Spielgerät gemeint.

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Quelle:
SZ vom 17.06.2016
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