Beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC) müssten sie Kritik an ihren Entscheidungen zu Russland-Fragen inzwischen gewöhnt sein. Die Empörung, die sich nach dem jüngsten Verdikt entfaltete, war aber noch ein wenig kräftiger als sonst - und sie rollte aus allen Richtungen heran. Aus dem Westen ertönten solche Stimmen wie die von Polens stellvertretendem Außenminister Piotr Wawrzyk ("Tag der Schande") und der deutschen Sportministerin Nancy Faeser ("Schlag ins Gesicht der ukrainischen Sportler"). Auf der anderen Seite meldete sich Russlands Olympia-Chef Stanislaw Posdnjakow zu Wort und schimpfte über die "Farce" des IOC.
Der Streit um Russlands Platz in der Sportwelt hat eine neue Stufe erreicht. Am Dienstag verkündete das IOC seine Empfehlung für die internationalen Fachverbände, nach der russische und belarussische Sportler wieder mitmachen dürfen - zumindest diejenigen, die gewisse Auflagen erfüllen. Das erinnert an jene Situation bei Russlands Staatsdopingskandal vor einigen Jahren, als Russland formal gesperrt war, aber über eine Einzelfallprüfung zahlreiche Sportler zugelassen wurden. Nun deutet wieder vieles darauf hin, dass die Auflagen so biegsam formuliert sind, dass es viele russische Athleten zu internationalen Wettkämpfen schaffen könnten - auch zu den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris.
In dem Kriterienkatalog sind insbesondere zwei Punkte entscheidend. So heißt es zum einen, dass Sportler, die den Krieg aktiv unterstützen, nicht mitmachen dürften. Für das IOC fallen darunter öffentliche Äußerungen, inklusive jene in sozialen Medien, die Teilnahme an Pro-Kriegs-Veranstaltungen oder das Tragen von Kriegssymbolen wie dem "Z". Zugleich fragt es sich, wie das geprüft werden kann und soll - und welche Wortmeldungen als Unterstützung klassifiziert werden können. Für diese Frage visiert das IOC eine sehr IOC-typische Lösung an: Die Fachverbände, heißt es, sollen ein "unabhängiges" Gremium einberufen, um eine einheitliche Interpretation dieser Kriterien zu gewährleisten.
Noch entscheidender dürfte der Umgang mit einem anderen Kriterium sein. Dazu ist das genaue Wording im IOC-Beschluss entscheidend. Demnach sollen jene Sportler ausgeschlossen bleiben, die "contracted to the military" seien.
Diese Wortwahl dürfte, wie immer bei vergleichbaren Entscheidungen, kein Zufall sein. Denn die russische Armee, die nach offiziellen Angaben zuletzt zirka 1,15 Millionen Soldaten zählte und in den nächsten Jahren um 350.000 anwachsen soll, ist zweigeteilt. Einerseits gibt es dort einige Hunderttausend Vertragssoldaten. In Russland firmieren diese unter dem Begriff "kontraktniki". Allerdings sind nicht einmal die Hälfte der Soldaten solche "kontraktniki". Den größeren Teil machen Wehrpflichtige aus. Bisher können Männer zwischen 18 und 27 Jahren eingezogen werden; kürzlich wurde im russischen Parlament ein Gesetzesentwurf vorgelegt, demzufolge das Höchstalter für die Wehrpflicht auf 30 Jahre angehoben werden kann. Russische Sportler, die bei der Armee sind, fallen in der Regel unter Wehrpflichtige - nicht unter die Kategorie "kontraktniki".
Das IOC antwortet auf Nachfragen ausweichend
Ähnliches gilt für die Sportler, die für den Klub ZSKA Moskau aktiv sind - den sogenannten Armeesportklub, unter dessen Dach sich Sportler von fast allen olympischen Sportarten versammeln. Er zählt knapp 700 Mitglieder. Nach den jüngsten Olympischen Sommerspielen in Tokio 2021 rühmte sich die Vereinsführung mit dem Hinweis, dass 45 der insgesamt 71 russischen Medaillen von ihren Athleten errungen worden seien, darunter elf goldene. Hinter dem Klub steht das Verteidigungsministerium, die ZSKA-Sportler erhalten von dort finanzielle Zuwendungen, viele von ihnen auch militärische Dienstgrade. Allerdings ist die Frage, ob sie unter die Formulierung "contracted" fallen, ebenso wie bei zwei weiteren Gruppen des Militärs: die zivilen Mitarbeiter (aktuell zirka 800 000 Mann) sowie fast zwei Millionen Reservisten.
Auf die Frage, ob das IOC unter seiner Formulierung "contracted" ausschließlich die Vertragssoldaten (kontraktniki) versteht oder alle, die mit dem Militär verbunden sind - also auch Wehrpflichtige oder ZSKA-Sportler -, antwortet ein IOC-Sprecher ausweichend. Er verweist nur auf den Passus aus den Durchführungsbestimmungen, in dem sich das IOC für besagtes "unabhängiges" Gremium ausspricht, das die einheitliche Interpretation gewährleisten soll. Das ist also die Logik des IOC: Es beschließt einen Kriterienkatalog, inklusives eines klaren und nach Wochen der Diskussionen mutmaßlich wohlgewählten Wortes. Aber was diese Kriterien bedeuten, das soll erst noch angeblich unabhängig interpretiert werden.
So verschafft das IOC sich und den Fachverbänden Spielraum. Und als wäre das alles noch nicht genug, hat es noch eine weitere Hintertür geöffnet. Denn grundsätzlich sollen zwar nur russische Einzelsportler zugelassen werden und die Teilnahme an Mannschaftswettkämpfen untersagt sein. Zugleich legt das IOC die Definition der Frage, was eigentlich ein Mannschaftswettkampf ist, in die Hände der Fachverbände. Beim Tennis-Doppel, beim Beachvolleyball-Paar oder beim Drei-gegen-Drei-Basketball könnte Russland also wieder im Spiel sein.
Der Leichtathletik-Weltverband will seinen Bann auch nach den neuen IOC-Empfehlungen aufrechterhalten
Nun ist die Frage, wie die internationalen Sportfachverbände mit diesen Schlupflöchern umgehen. Der russische Einfluss ist dort traditionell groß. Der Leichtathletik-Weltverband erklärte am Mittwoch klar, dass er auch nach den neuen Empfehlungen des IOC keine russischen Sportler an den Start lässt - "auf absehbare Zeit". Die Turner und die Biathleten teilten mit, sie ließen zumindest vorerst keine zu. Die Fechter hatten schon vor dem neuen Entscheid die Rückkehr beschlossen.
Als die internationale Sportwelt vor einigen Jahren beim Staatsdopingskandal ihre strenge Einzelfallprüfung ankündigte, führte das dazu, dass bei den Winterspielen 2018 in Pyeongchang 168 Athleten aus Russland starteten, bei den Sommerspielen 2021 in Tokio sogar 329. Nach dem aktuellen Bescheid, so behauptet es Russlands Olympia-Chef Posdjnakow, könnte es darauf hinauslaufen, dass in Paris 2024 aus Russland lediglich Tennisspieler dabei wären. Das wären dann nur eine Handvoll. Vielleicht sollte Posdnjakow besser nicht auf die Idee kommen, dass er für jeden zusätzlichen russischen Sportler einen Wodka ausgibt - es könnte sonst ein langer und teurer Abend werden.