Süddeutsche Zeitung

IOC:Diese Sportwelt will keine unabhängige Dopingkontrolle

55 Betrüger in Peking und London sind nur die Spitze des Eisbergs: Massiv gedopt wird bekanntlich in den Monaten vor Olympischen Spielen. Das IOC nimmt den Anti-Doping-Kampf nicht ernst.

Kommentar von Thomas Kistner

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat eingefrorene Dopingproben von den Sommerspielen 2008 in Peking und 2012 in London nachtesten lassen - und da kommt jetzt ganz schön was zusammen. Aktuell sind es 55 Sündenfälle. Dabei wurden vor allem Athleten in den Blick genommen, die damals dabei waren - und es 2016 in Rio noch mal wissen wollen. Ein vergleichsweise enger Kreis also. Und Nachkontrollen gibt es naturgemäß nur für Substanzen, die über die letzten Jahren besser nachweisbar wurden. Das hilft die abfallende Kurve erklären: 32 Fälle in Peking, 23 in London. Nicht, weil die Spiele sauberer werden. Sondern weil Stoffe, die vor acht Jahren in Gebrauch waren, heute eben leichter aufspürbar sind als die moderneren Hämmer von 2012.

Aber ruhig Blut, Spitzensport. Für den Dopingbetrieb lautet die gute Nachricht: Alles, was jetzt aufgetaut und weggetestet wurde, ist nicht mehr verfügbar für spätere Tests. Wer diesmal durchkam, dem kann künftig nichts mehr passieren.

55 Sünder. Nach Spielen, bei denen offiziell nur neun (inklusive vier Turnierpferden in Peking) beziehungsweise acht (London) Fälle gemeldet wurden. Das zeigt, dass die paar Betrüger, die unmittelbar bei den Spielen geschnappt werden, nur die Spitze eines Eisberges sind, der sich unter Olympias Hochglanzbühne gewaltig in die Breite ausdehnt. Schon vor den London-Spielen hatte die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) 107 Sünder gestellt. Wenn man das alles hochrechnet, landet man flott im Tausenderbereich. Denn massiv gedopt wird ja bekanntlich nicht bei Olympia, sondern in den Monaten zuvor. Damit man topfit im Wettkampf ist - und blitzsauber.

Im 100-Meter-Sprint haben nur zwei der zehn Weltbesten eine saubere Vita

Gendoping und die Fülle gar nicht nachweisbarer Dopingvarianten einmal außen vorgelassen: Wer das wahre Betrugsausmaß auch nur erahnen will, muss mehr Sachverhalte berücksichtigen. Unter den nun fast 50 Dopingfällen von Peking, das darf gewettet werden, werden die größten Namen fehlen. Insbesondere der wird unbefleckt bleiben, der Peking mit einem Fabelweltrekord vergoldet hat.

Mit einem Quantensprung, den nur Monate zuvor ein Wissenschaftler-gremium für (unter sauberen Bedingungen) frühestens Ende des Jahrhunderts machbar hielt: Usain Bolt schoss mit offenem Schuh in 9,69 Sekunden über 100 Meter davon; bei der WM 2009 in Berlin lief der Jamaikaner gar 9,58. Erstaunlich für den König einer Disziplin, in der nur zwei der zehn Weltbesten keine klare Dopingvita haben. Phänomenal für einen, der von einer Insel ohne Testsystem kommt, die hauptsächlich zweierlei produziert: Supersprinter und reihenweise Sünder.

Aber nicht Bolt. Dessen Heldentaten übrigens ein sehr ansteckender Virus innewohnt: Seit er der Konkurrenz davonjagt, eilt ihm diese fast ebenso schnell hinterher. Wunder des Spitzensports.

Auf den Punkt bringt die Absurdität des Kommerztheaters im Zeichen der Ringe jene Selbstbeweihräucherung, mit der nun das IOC jede seiner Betrugsmeldungen garniert. Die Kernbotschaft lautet, wie wild entschlossen man den Dopingkampf führe. Das ist blühender Unfug. Die Kernbotschaft jeder späten Enthüllung ist ja nicht die saubere Linie des IOC, sondern dass es stark verschmutzte Spiele veranstaltet. Dass hin und wieder etwas aufgedeckt wird, ist unvermeidlich und die minimale Bringschuld eines Olympiakonzerns, der über all die Werbe- themen rund um Jugend, Erziehung und Sportethik Milliarden verdient.

Sonst könnte das IOC ja gleich Witali Mutko zum Dopingbeauftragten machen. Der russische Sportminister findet es nämlich total unfair, dass man jetzt Athleten - etwa seine - mit Nachtests überführt. Wer bei den Spielen durchging, sollte für immer unbehelligt bleiben, lautete sein jüngster Beitrag. Das ist ein interessanter Fairplay-Ansatz. Demnach wäre es nur fair, polizeiliche Telefonmitschnitte zu verbieten, weil die armen Verbrecher beim Aushecken ihrer Pläne ja gar nicht wissen, dass sie belauscht werden.

Die Sportwelt will ihre Spektakel optimieren

Tatsächlich hat die Dopingproblematik, vom Publikum unbemerkt, den reinen Pharmasumpf sogar schon verlassen. Sie taucht zunehmend im Umfeld organisierter Kriminalität auf. Zur Leichtathletik wird gerade ermittelt, ob Helden des Sports von Angehörigen des Ex-Weltverbandschefs erpresst wurden, des IOC-Ehrenmitglieds Lamine Diack. Und nun gerät der Amateurbox-Weltverband Aiba in den Fokus. Britischen Medien zufolge haben Wada-Inspektoren festgestellt, dass Aiba keine Trainingstests mache: einen 2014, keinen 2015.

Zeigt das schon, wie der Sport im Tagesgeschäft mit dem Betrugsthema verfährt, werfen auch hier dubiose Deals und Netzwerke Fragen auf. Laut einem Buchprüfer-Report besiegelte Aiba 2010 einen Kreditvertrag über zehn Millionen Dollar mit einer schillernden Firma in Aserbaidschan. Die soll wenig Interesse an der seit 2013 fälligen Rückzahlung zeigen, aber auf ein tolles Abschneiden der nationalen Boxer in Rio hoffen. Aiba-Chef Ching Kuo-Wu sitzt im IOC-Vorstand. Ein Aiba-Vize, den er 2014 ins Amt holte, war im Jahr 2000 von den Sydney-Spielen verbannt worden; das FBI hatte vor dem Usbeken gewarnt.

Diese Sportwelt will keine unabhängige Dopingkontrolle. Sondern nur eines: ihre geldwerten Spektakel optimieren. Pharma-Affären stören enorm. Gerade mühen sich Olympias Granden, die schwerstbelastete Russen-Armada irgendwie noch nach Rio zu bringen. An der Realität bemessen, sind die paar Fälle, die es immer mal gibt, als Pannen im System zu sehen.

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SZ vom 01.06.2016/fued
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