Süddeutsche Zeitung

Interview:"Schlecht spielen kann der gar nicht"

Lesezeit: 6 min

Hermann Gerland, Förderer von Philipp Lahm, über die nicht vorhandenen Schwächen des deutschen Linksverteidigers.

Interview: Christof Kneer

Hermann Gerland, 52, hat als Amateurtrainer des FC Bayern viele spätere Berühmtheiten kommen und wachsen sehen. Er gilt als Experte für Nachwuchsarbeit und ist bekannt für sein Auge für junge Spieler. Zwei Jahre (2001 bis 2003) trainierte er Philipp Lahm, 22, bei den Regionalliga-Amateuren des FC Bayern - aber er brauchte nur zwei Trainingseinheiten, um festzustellen, dass hier ein Weltklassespieler heranwächst. Ein Gespräch, nein: eine Schwärmerei.

SZ: Herr Gerland, die Welt staunt über Philipp Lahm. Staunen Sie auch?

Gerland: Ich staune überhaupt nicht.

SZ: Haben Sie denn damit gerechnet, dass er auch auf der großen WM-Bühne so auftrumpfen würde wie im Eröffnungsspiel gegen Costa Rica und erst recht im Spiel gegen Polen?

Gerland: Philipp ist immer alles zuzutrauen, wirklich alles. Und stellen Sie sich mal vor, er hätte all seine Verletzungen nicht gehabt, den Mittelfußbruch, den Kreuzbandriss. Der Bursche ist erst 22 und doch fehlt ihm fast ein ganzes Jahr Profifußball. Stellen Sie sich mal vor, wie gut er wäre ohne diese Pausen. Bei den anderen WM-Teilnehmern nehmen die Spieler mit Trainingsrückstand ja auch für sich in Anspruch, dass sie nicht in Topform sind - und Philipp kommt mit seiner Ellbogenverletzung hierher und spielt einfach.

SZ: Sie kennen ihn lange - können Sie erklären, wie er das macht?

Gerland: Ich hab ja mal gesagt, dass der Bursche schon im Mutterleib Fußball gespielt haben muss, und das ist wirklich die einzige Erklärung, die ich habe. Er hat so ein sensationelles Gespür für das Spiel, der spürt automatisch, wann er sich zurücknehmen muss und wann nicht. Und er hat ein Gefühl für den Raum, so was habe ich noch nie erlebt.

SZ: Was meinen Sie damit: Gefühl für den Raum?

Gerland: Ich gebe Ihnen mal ein aktuelles Beispiel: Das Tor, das die Deutschen gegen Polen geschossen haben, hätte auf der anderen Seite nie fallen können.

SZ: Und warum nicht?

Gerland: Philipp wäre das nie passiert. Wenn er in dieser Szene Verteidiger gewesen wäre, hätte er sich nie rauslocken lassen wie der Pole, der Odonkor entgegen gelaufen ist. Philipp hat ein perfektes Gespür für den gefährlichen Raum, er hätte nicht diese Lücke aufgerissen, in die Neuville dann hineinrutschen konnte. Er hat das einfach, das kann man nicht lernen. Er hätte zum Beispiel auch nie diese gelb-rote Karte kassiert wie der Spieler aus Polen. Philipp ist viel zu schlau für so was.

SZ: Das heißt aber doch, er hätte den Gegner weglaufen lassen.

Gerland: Ja, und fünf Meter weiter hätte er ihn wieder gehabt.

SZ: Ist Philipp Lahm der beste Spieler, den Sie jemals ausgebildet haben?

Gerland: Was heißt ausgebildet? Sie werden von mir nie den Satz hören, dass ich Philipp was beigebracht hätte - außer vielleicht, dass er nur grätschen soll, wenn er sich sicher ist, dass er den Ball erwischt. Ansonsten hatte dieser Bursche schon alles, was man braucht. Ich habe oft gestaunt, wenn wir im Training mal neue, zum Teil komplizierte Spielformen gemacht haben - Philipp hat sie immer als Erster verstanden.

SZ: Also, anders gefragt: Ist er der Beste, den Sie je hatten?

Gerland: Ganz bestimmt, ich schwärme ja nicht ohne Grund so. Ich hatte wirklich viele begabte 19-Jährige, Babbel, Hamann, Kuffour, Nerlinger und einige mehr, Babbel ist Europameister und Hamann Champions-League-Sieger, und wenn ich sage, Philipp war klar besser, dann dürfen Sie das schon als Auszeichnung verstehen. Ich kann mich erinnern, dass ich mit Uli Hoeneß mal den jungen Didi Hamann beobachtet habe, und der Didi hat ein sehr schlechtes Spiel gemacht damals. Auch das wäre bei Philipp nie passiert. Der Philipp hat nie ein sehr schlechtes Spiel gemacht. Schlecht spielen kann der gar nicht.

SZ: Können wir den Wunderknaben mal in seine Einzelteile zerlegen?

Gerland: Gerne, Sie werden kein schlechtes Teil finden.

SZ: Also: linker oder rechter Fuß?

Gerland: Der rechte ist sein stärkerer, aber der linke ist auch sehr gut. Sie brauchen nicht weiter zu fragen, er hat wirklich alles: Technik, Schnelligkeit, einen sauberen, sicheren Pass, und vor allem spielt er die Pässe immer mit der richtigen Geschwindigkeit. Die sind immer genauso temperiert, dass die Mitspieler keine Probleme haben, den Ball anzunehmen. Und er hat ein Riesen-Selbstbewusstsein. Der weiß genau, was er kann, und deshalb hat er keine Angst vor einem Fehlpass.

SZ: Aber jetzt: Kopfball! Der ist doch nur 1,70 Meter.

Gerland: Auch da muss ich Sie enttäuschen. Philipp hat bei mir in der Regionalliga gelegentlich vor der Abwehr gespielt, auf der Sechser-Position, und er hat auch da die meisten Kopfballduelle gewonnen. Und als er damals mit Stuttgart in der Champions League gegen Manchester United gespielt hat, hat er mal per Kopf ein Tor vorbereitet. Gegen Engländer!

SZ: Bei all diesen Stärken - könnten Sie sagen, welches seine größte ist?

Gerland: Ja, es ist diese unglaubliche Konstanz. Der Philipp kam zu mir, da war er 17, da hätte er noch A-Jugend spielen können, und ich war von der ersten Sekunde erstaunt über diese Ruhe, die er im Spiel hat. Ich glaube, dass er in diesen zwei Jahren in jedem Spiel eine außergewöhnliche Leistung gebracht hat. So reif hat bei mir noch keiner gespielt, obwohl ja gelegentlich auch mal Profis bei uns aushelfen, nach Verletzungen oder so. Es gibt nur einen, der bei mir in der Regionalliga-Mannschaft mal eine ähnliche gute Leistung gebracht hat, wissen Sie, wer das ist?

SZ: Sagen Sie's uns.

Gerland: Das war Mehmet Scholl. Der hat vor zwei Jahren mal bei uns in der Regionalliga mitgespielt, zweimal eine Halbzeit, da hatte er gerade eine Verletzung überstanden und richtig Lust auf Fußball. Der hatte als einziger ein ähnliches Niveau wie der 18-jährige Lahm.

SZ: Dennoch geht die Geschichte, dass Sie ihn damals geradezu anpreisen mussten in der Bundesliga. Angeblich waren nur Felix Magath, damals beim VfB Stuttgart, und Peter Neururer, damals beim VfL Bochum, interessiert.

Gerland: Vielleicht unterschätzt man ihn gern, weil er so jung aussieht. Zum Felix hab ich gesagt: Du Felix, ich hab da einen, der ist besser als alle, die ich je hatte. Der sieht aus wie 15, spielt aber wie ein 30-Jähriger. Dann hat der Felix gefragt: Was kann der denn spielen? Ich habe gesagt: rechter Verteidiger, linker Verteidiger, rechtes Mittelfeld, zentrales Mittelfeld. Und Felix hat gesagt: Wenn Du das sagst, Hermann, dann nehm ich den. Er hat ihn dann in der Vorbereitung kennen gelernt und sich gewundert, was das für ein Kleiner ist, der mit einem Lächeln die härtesten Belastungen wegsteckt, während die gestandenen Profis leiden. Auch das ist eine seiner Stärken: Er hat zwar nicht gerade eine Bodybuilder-Figur, aber der Bursche ist ganz schön zäh.

SZ: War Uli Hoeneß nicht sauer auf Sie, weil Sie so ein Spitzentalent woanders empfohlen haben?

Gerland: Nein, er wurde ja nur ausgeliehen, er hat ja zuvor bei Bayern einen langfristigen Vertrag unterschrieben. Der Kalle Rummenigge hat erst ein bisschen gebrummt und gesagt: Ich musste erst 70 Bundesliga-Spiele machen, um so einen Vertrag zu bekommen. Ich habe gesagt: Ja, aber das war vor dem Krieg, der Junge ist so gut, den müssen wir halten. In meiner Mannschaft wollte ich ihn aber nicht behalten, jeder weitere Tag Regionalliga wäre eine Sauerei gegenüber dem Jungen gewesen. Der war da verschenkt, der musste in die erste Liga. Ein paar Monate später, nach diesem Champions-League-Spiel mit dem VfB gegen ManU, wollte Manchesters Trainer Ferguson ihn gleich haben. Der wusste nicht, dass Philipp dem FC Bayern gehört.

SZ: Es scheint, als habe er jeden neuen Karriereschritt mühelos geschafft. Wie weit ist er jetzt? Ist er schon Weltklasse?

Gerland: Weltklasse ist ein großes Wort, so weit würde ich noch nicht gehen. Ich würde es "internationale Klasse" nennen. Aber an die Weltklasse wird er sich ranarbeiten, jetzt kommen ja die Spiele, die er dazu braucht. Polen war okay, die haben gut gekämpft, aber das war noch nicht der Maßstab für einen Weltklassespieler. Erst wenn Philipp gegen England, Spanien, Italien, Brasilien genauso spielt, ist er Weltklasse. Grundsätzlich ist für mich aber klar: Wenn nicht wieder so viele Verletzungen dazwischen kommen, dann macht hier einer eine Weltkarriere.

SZ: Aber der beste Linksverteidiger dieser WM könnte er jetzt schon werden?

Gerland: Sehen Sie sich mal die Guten in den anderen Ländern an...

SZ: ... Roberto Carlos, Sorin, Ashley Cole, van Bronckhorst...

Gerland: ... alles Superspieler, aber ich würde Philipp gegen keinen tauschen.

SZ: Im Umfeld der Nationalmannschaft wird gelegentlich spekuliert, ob Philipp Lahm nicht auch als Rechtsverteidiger eingesetzt werden könnte.

Gerland: Klar könnte er das, das hat er bei mir ja meistens gespielt. Linksverteidiger war er bei mir nie.

SZ: Wie schnell könnte er sich umstellen, auf diesem Niveau?

Gerland: Eigentlich sofort, aber weil es eine WM ist, würde ich sagen: Er braucht vielleicht ein Spiel, dann würde er rechts wieder genauso gut spielen wie links.

SZ: Aber wahrscheinlich wird es seine Bestimmung sein, endlich jene Lücke links hinten zu schließen, die Andreas Brehme vor über zehn Jahren gerissen hat. Ist er schon so gut wie Brehme?

Gerland: Das sind völlig unterschiedliche Typen, Philipp ist viel fixer und schneller, aber Brehme hatte einen gewaltigen Schuss in beiden Füßen und war deutlich torgefährlicher.

SZ: Aha, haben wir also doch was gefunden, was zu verbessern wäre.

Gerland: Ja, torgefährlicher könnte er werden, aber im Prinzip geht es bei ihm jetzt vor allem darum, dass er seine sensationelle Konstanz auch auf diesem Topniveau hält. Er muss es auf diesem Niveau dauerhaft hinbekommen, seine Seite dichtzumachen und gleichzeitig das Spiel nach vorne zu treiben. Das ist das, was er lernen muss. Sonst hat er alles.

SZ: Nur zum Trost für alle anderen Fußballer auf dieser Welt: Fällt Ihnen zum Schluss nicht doch noch irgendwas ein, was er nicht so gut kann?

Gerland: Ich denke, als Torwart könnte er noch besser werden.

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Quelle:
SZ vom 17.6.2006
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