Interview mit Volker Roth:"Die Grenze ist unter dem Kinn"

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Volker Roth, Vorsitzender im DFB-Schiedsrichterausschuß, über die Kunst des Ausziehens auf dem Fußballplatz.

Von Klaus Hoeltzenbein

SZ: Herr Roth, es heisst immer, der Fußball soll einfach sein. Zur neuen Saison wurde auch nur eine Regel, die Regel 12, Foulspiel und unsportliches Betragen, erweitert. Die Überarbeitung aber sorgt für Irritationen, denn sie soll die Frage klären: Wie zieht sich ein Fußballer im Jubel richtig aus?

Roth: Eigentlich ganz einfach: Das Trikotausziehen ist nicht erlaubt und wird mit Gelb bestraft. Unter Ausziehen haben wir beim Deutschen Fußball-Bund verstanden, und so haben wir es vergangenen Saison ja auch praktiziert: Totalausziehen. Also Trikot über den Kopf, und...

SZ: ... So wie es der Brasilianer Ailton von Werder Bremen nach seinem Tor gegen die Bayern tat, als er sein Trikot wie der Cowboy das Lasso über dem Kopf geschwungen hat.

Roth: Genau. Dafür gab es Gelb.

SZ: Nun aber hat das International Football Association Board, die Regelbehörde des Weltverbandes Fifa, in ihrer Interpretation der Regel 12 erklärt, dass eine Sanktion, also die Gelbe Karte, schon zu verhängen ist, wenn ein Spieler sein Trikot über den Kopf gestreift oder mit ihm nur das Gesicht verdeckt hat. Mit dem Trikot darf nichts mehr passieren?

Roth: Ja, doch, er darf es hochziehen.

SZ: Und ab welcher Körperhöhe handelt es sich um eine ahndungswürdige Vermummung?

Roth: Ich sage mal: Die Grenze ist unter dem Kinn.

SZ: Das sagen Sie als Vorsitzender des DFB-Schiedsrichterausschusses. Manfred Amerell, Mitglied im Schiedsrichterausschuss, hat gerade erst erklärt: Das Gesicht ist verdeckt, wenn die Augen verdeckt sind.

Roth: Da sehen Sie mal. Da gibt es keine Interpretation von der Fifa. Und wir sagen jetzt mal: Unter dem Kinn. Und so haben wir es den Schiedsrichtern beim jüngsten Lehrgang auch erklärt.

SZ: Glücklich scheinen Sie in Ihrem Interpretationsspielraum nicht zu sein.

Roth: Im englischen Regeltext der Fifa steht nur das Wort to remove. Und remove heisst: entfernen. Und entfernen heisst: sich vollständig ausziehen, weg mit dem Trikot. Da muss nicht einmal das Wort complete dahinter stehen. Nun gut: die Fifa hat es anders interpretiert, hat es aufs Gesicht erweitert, und wir müssen es nun umsetzen.

SZ: Was wäre Ihr Regelvorschlag?

Roth: Wie bisher bei uns. Wenn einer das Trikot wegschmeisst und der andere holt es, sammelt es auf und kredenzt es wieder: Das ist eine Zeitverzögerung, also gelb. Hinzu kommt, dass sich der Gegner durch so eine Jubelarie provoziert fühlen könnte. Es darf auch nicht so sein, wie wir es in Südamerika hatten: dass die Spieler ihr Trikot ins Publikum werfen und die Massen sich in einer Welle nach vorne bewegen und den Schutzwall niederreissen. Es gab dort Todesfälle.

SZ: Sie selbst haben als Begründung für das verschärfte Stripverbot die Erklärung der Fifa angeführt: in islamischen Ländern gebe es Probleme bei zu großer Freizügigkeit auf dem Rasen.

Roth: Ich habe gesagt: In einigen islamischen Ländern. Nicht in allen.

SZ: Ganz stichhaltig scheint auch dieses Argument nicht zu sein. Es ist ja weiterhin nicht verboten, dass zum Beispiel Cristiano Ronaldo, der Frauenschwarm der Europameisterschaft, während der Torzeremonie seinen Waschbrettbauch oder ein neues Tattoo präsentiert.

Roth: Zieht er sein Trikot komplett aus, wie er es bei der EM im Spiel seiner Portugiesen gegen die Niederländer tat: Gelbe Karte. Rollt er es hoch und verdeckt Mund und Nase: Gelbe Karte. Bleibt es unter dem Kinn hängen: In Ordnung. Also feiern darf man schon noch.

SZ: Dann können Sie ja Evelin Schönhut-Keil und Margareta Wolf, die beiden Politikerinnen der Grünen, beruhigen.

Roth: Warum?

SZ: Beide hatten an den DFB-Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder einen Brief geschrieben, in dem sie ihn drängten, sich für die Abschaffung des Trikot-Paragrafen der Regel 12 stark zu machten. Verwiesen wurden auf die hohe Zahl weiblicher Zuschauer bei der EM in Portugal und darauf die Forderung der Politik aufgebaut: "Weg mit der gelben Karte - her mit dem freiwilligen Zeigen sportlicher Oberkörper!"

Roth: Nunja, der DFB könnte darauf drängen, dass die Regel modifiziert wird. Jeder Nationalverband kann beim International Board den Antrag stellen, das abzuschaffen. Ich denke aber nicht, dass der DFB das macht. Jetzt müssen sich die Profis eben korrekt ausziehen. Und wenn Ronaldo das Trikot zwischen Kinn und Schulterblatt... Sie sehen, da wird die Sache allmählich lächerlich.

SZ: Daraus ist zu folgern, dass es weiterhin nicht geahndet wird, wenn ein Profi statt seiner Muskelstränge handgeschriebene Grußbotschaften auf einem Unterhemd präsentiert? Wie die Brasilianer, allen voran Bayerns Lucio, die nach ihren Toren Gott oder Jesus danken.

Roth: Der Schiedsrichter muss, wenn er sie wahrnimt, die Botschaften im Spielbericht vermerken. Politische oder soziale Botschaften dürfen nicht gezeigt werden. Und dann entscheidet der Sportausschuss, ob nachträglich etwas unternommen werden muss. Die Schiedsrichter haben, obwohl ich das Wort nicht mag, da kein direktes Strafrecht.

SZ: Und den Frauen bleibt es erlaubt, einen Sport-BH zu präsentieren, wie es US-Stürmerin Brandi Chastain tat, nach ihrem Siegtor bei der WM 1999?

Roth: Trikot nur bis zum Kinn - dann wüsste ich im Augenblick nicht, was dagegen sprechen sollte.

© Süddeutsche Zeitung vom 24.7.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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