Interview mit Ottmar Hitzfeld:"Das ist alles ein Experiment"

Dass es schwer wird beim FC Bayern, wusste Ottmar Hitzfeld. Aber gleich so schwer? Im Interview spricht er über die Großbaustelle FC Bayern, Konfliktlösungen und das Burn-Out-Syndrom

Klaus Hoeltzenbein und Christof Kneer

SZ: Herr Hitzfeld, wie hätte wohl der Fernseh-Experte Ottmar Hitzfeld über das 0:3 der Bayern beim 1.FC Nürnberg geurteilt?

Ottmar Hitzfeld

Hitzfeld ist schon wieder mit Leib und Seele dabei.

(Foto: Foto: dpa)

Hitzfeld: Er hätte gesagt: eine enttäuschende Leistung des FC Bayern. Aber ich habe auch positive Ansätze gesehen.

SZ: Jetzt klingen Sie nicht mehr wie der TV-Reporter. Jetzt klingen Sie wie der Trainer des FC Bayern München.

Hitzfeld: Sie können mir glauben, dass dieses Spiel intern nicht schöngeredet wird. Jeder Spieler muss jetzt fähig sein, Kritik einzustecken, und vielleicht ist man nach einer 0:3-Niederlage ja aufnahmefähiger als nach einem 3:4.

SZ: Was öffentliche Spielerkritik anbelangt, haben Sie wiederum wie ein Fernseh-Experte geklungen. Sie haben Namen genannt, Sie haben zum Beispiel Lucio heftig kritisiert und auch Schweinsteiger. So etwas kannte man vom Trainer Hitzfeld bislang nicht.

Hitzfeld: Das ist richtig, aber ich denke, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, an dem man nicht mehr warten kann. Wir müssen alles klar ansprechen, wir können jetzt keine Zeit mehr verlieren.

SZ: Sieht Lucio das auch so?

Hitzfeld: Ihn habe ich mir auch deshalb herausgepickt, weil ich auf ihn setze. Er ist der Kapitän der brasilianischen Nationalelf, er muss Chef der Abwehr sein. Ich weiß, dass er ein großes Herz hat und dass er der Elf nur helfen will, wenn er nach vorne marschiert. Aber Tore machen ist nicht seine Aufgabe. Ein Abwehrchef muss erst mal Ruhe ins Spiel bringen und hinten für Sicherheit sorgen. Deshalb habe ich ungewöhnlich deutlich Klartext gesprochen, damit sich alle ihrer Verantwortung bewusst sind.

SZ: Waren die Spieler erstaunt, dass der neue, alte Trainer auf einmal so deutliche Worte wählt?

Hitzfeld: Das weiß ich nicht. Aber ich habe mit Lucio gleich am nächsten Tag ein Gespräch geführt und ihm erklärt, wie ich das gemeint habe. Ich spreche gerade sehr viel mit den Spielern, gerade mit Spielern wie Lucio, die ich noch nicht kenne oder besser: die mich noch nicht kennen. Es muss ein Vertrauensverhältnis hergestellt werden, da ist es wichtig, dass nichts im Raum stehen bleibt.

SZ: Öffentlich gesagt haben Sie zum Beispiel auch, dass Daniel van Buyten sein Zweikampfverhalten überprüfen muss, weil er sonst Gefahr läuft, gelbe und rote Karte zu sammeln.

Hitzfeld: Ja, das ist doch eine sehr vernünftige Aussage, oder?

"Das ist alles ein Experiment"

SZ: Sie haben auch Bastian Schweinsteigers Rolle öffentlich definiert. Sie haben schon vor dem Anpfiff in Nürnberg angezweifelt, dass er der Mannschaft als Spielmacher helfen kann.

Hitzfeld: So habe ich das nicht gesagt. Er musste hinter den Spitzen zuletzt viel Kritik einstecken, und der erste Schritt kann nur sein, ihm wieder Selbstvertrauen zu verschaffen, und zwar auf einer Position, auf der er sich sicher fühlt. Ich habe ihn extra auf die linke Seite rausgenommen, damit er da mit Philipp Lahm so harmonieren kann wie bei der WM. Auf Sicht gesehen, bleibt die Nummer zehn für ihn aber durchaus ein Thema.

SZ: An welchen Zeitraum denken Sie denn da? Schweinsteiger hat ja gerade erst gesagt, dass er ein berühmter Spieler werden will. So wie Zidane.

Hitzfeld: Jetzt ist erstmal harte Arbeit angesagt, keine Zauberei.

SZ: Uli Hoeneß hat gesagt, den Spielern sei nach der WM zu viel Puderzucker in den Hintern geblasen worden.

Hitzfeld: Man muss Uli Hoeneß verstehen. Er hat ein Riesenherz für die Spieler und für den FC Bayern.

SZ: Aber erst kommt der FC Bayern, dann die Spieler.

Hitzfeld: Ja klar, die Spieler sind austauschbar. Aber mich hat diese Wortwahl aus der Ferne auch erstaunt. Als ich das gehört habe, haben bei mir die Alarmglocken geläutet. Es ist ja sonst nicht seine Art, Spieler öffentlich anzugreifen. Ich wusste: Wenn er das macht, dann hat er seine Gründe. Uli Hoeneß war immer ein ehrlicher Arbeiter, er will nicht drei Hackentricks am Stück sehen, sondern Einsatz. Und offenbar hat er im Verlauf der Vorrunde den Eindruck gewonnen, dass da was fehlt. Unsere deutschen Nationalspieler Schweinsteiger, Podolski und Lahm müssen zum ersten Mal in ihrem Leben mit Kritik umgehen, im Sommer waren sie noch im siebten Himmel, und Uli Hoeneß hat natürlich schon vor der Saison gewusst, dass das ein schweres Jahr wird. Das war 1974 nach der WM ja genauso...

SZ: ...da ist Bayern am Ende Zehnter geworden...

Hitzfeld: ... erwähnen Sie das lieber nicht! Aber diese Situation ist natürlich der erste Ansatz für meine Arbeit: Die Spieler müssen kapieren, dass wir in einer prekären Situation stecken.

SZ: Was Sie von Ihrem Vorgänger geerbt haben, ist das berühmte Mittelfeldloch. Wie wollen Sie dieses kreative Vakuum füllen?

Hitzfeld: Das bereitet mir auch Kopfzerbrechen. In der Abteilung Kreativität haben wir sicherlich ein Manko. Ich habe keinen Spezialisten wie den Bremer Diego, ich bin da selbst noch am Experimentieren. Ich habe Karimi, Scholl oder auch van Bommel, den man nach vorne verschieben könnte, aber sehr viele Möglichkeiten habe ich nicht. Ich muss mal prüfen, wie fit der Mehmet ist, ob man ihn vielleicht mal von Anfang bringen kann.

SZ: Die fußballerische Qualität hat er immer noch.

Hitzfeld: Der Mehmet wird mit 40 noch die Freistöße unter die Latte hauen.

"Das ist alles ein Experiment"

SZ: Haben wir Sie richtig verstanden, dass Sie die Ziele unter dem Eindruck des Nürnberg-Spiels heruntergefahren haben? Es geht jetzt offiziell nur noch um Tabellenplatz drei und die Sicherung der Champions-League-Qualifikation?

Hitzfeld: Nein, ich habe immer gesagt: Das oberste Ziel ist eine deutsche Meisterschaft, und träumen darf man immer. Aber wenn eine Mannschaft auf der Euphoriewelle schwimmt wie Schalke, dann kann ich nicht davon ausgehen, dass die elf Punkte Vorsprung herschenken. Also muss ich auch den dritten Platz öffentlich ansprechen, das ist der Auftrag, den ich von der Vereinsführung mitbekommen habe. Die Champions-League-Teilnahme ist für den Klub viele Millionen wert, das muss den Spielern klar sein. Der Klub ist unser Arbeitgeber.

SZ: Sie haben gesagt, dass einige Spieler offenbar noch nicht begriffen hätten, was es bedeutet, für den FC Bayern zu spielen. Haben Sie das Gefühl, dass da etwas verloren gegangen ist während Ihrer Abwesenheit?

Hitzfeld: Ich möchte nicht zu viel reden über das, was war. Felix Magath hat einen Superjob hier gemacht, er hat das geschafft, was ich nie geschafft habe: Er hat zweimal das Double gewonnen.

SZ: Hat Sie Felix Magaths Entlassung überrascht?

Hitzfeld: Ja. Ich hätte schon gedacht, dass er nach solchen Erfolgen doch mehr Spiele Kredit hat. Aber so ist das halt bei Bayern: Hier zählt nur der erste Platz. Ich ging damals ja auch als Vizemeister. Ich habe das auch eingesehen: Ich habe ja selbst hohe Ansprüche, und wenn man bei Bayern München in die Saison startet, heißt der Auftrag: Meister werden!

SZ: Ist die gegenwärtige Situation für einen Perfektionisten wie Sie nicht sehr anstrengend?

Hitzfeld: Ich habe sicher mehr Arbeit als ich mir vorgestellt habe. Ich habe ja spontan zugesagt und mich zuvor nicht konkret mit der Mannschaft auseinandergesetzt. Aber nach dem 0:3 in Nürnberg bin ich auf dem Boden der Realitäten angelangt, ich weiß jetzt, was mich erwartet. Andererseits ist das für mich ja auch ein Experiment. Ich war noch nie, wie sagt man, Aushilfstrainer...

SZ: Feuerwehrmann.

Hitzfeld: Dieses Wort mag ich eigentlich nicht, und ich hab das auch nur den Bayern zuliebe gemacht. Bei einem anderen Verein wäre das nicht in Frage gekommen. Aber ich merke, dass die Bayern für mich wie eine Energiequelle sind. Bayern gibt mir Kraft.

SZ: Sind Sie nach Ihrer Pause entspannt genug für diese Herausforderung?

Hitzfeld: Man kann das mit damals gar nicht vergleichen. In den letzten zwei Jahren beim FC Bayern war ich völlig ausgelaugt, ich habe den Druck schon gespürt, wenn ich morgens in die Säbener Straße eingebogen bin. Selbst über Erfolge konnte ich mich nicht mehr wie früher freuen. Es war nicht das klassische Burn-out-Syndrom, aber ich war auf dem Weg dahin. Deswegen habe ich im Sommer 2004 nach dreitägiger Bedenkzeit auch den Bundestrainerjob abgelehnt. Man darf seinen Körper nicht überlisten, und wenn ich diesen Job angenommen hätte, hätte ich mich selbst überschätzt. Und ich hätte diesen Job nicht so erledigen können, wie es nötig war. Heute freue ich mich wieder auf die Arbeit, trotz eines 0:3 in Nürnberg.

SZ: War Ihnen Ihre Situation bei Bayern damals bewusst oder haben Sie das verdrängt?

Hitzfeld: Verdrängt ist der richtige Ausdruck. Ich bin ja ein pflichtbewusster Mensch und wollte meinen Auftrag zu Ende bringen. Ursprünglich wollte ich 2001 schon aufhören, ich habe gespürt, was die drei Jahre zuvor für Substanz gekostet hatten, und dann dieser Mai 2001: die dramatische Meisterschaft in Hamburg, drei Tage später das gewonnene Champions-League-Finale. Ich habe dem Verein meinen Rücktritt angeboten, aber der wurde abgelehnt.

"Das ist alles ein Experiment"

SZ: Sie haben einst über Schlafstörungen geklagt. Schlafen Sie jetzt besser?

Hitzfeld: Die letzte Nacht habe ich sogar durchgeschlafen.

SZ: Wo haben Sie sich am besten erholt? Gibt es einen Ort, der für Sie besonders wichtig war?

Hitzfeld: Entscheidend war meine Wohnung in Engelberg, mitten in den Schweizer Bergen. Da war ich weit weg vom Geschehen und durch meinen Job bei Premiere trotzdem nahe dran. Das war ideal. Ich bin seit 1971 im Fußballgeschäft, erst als Spieler, dann als Trainer. Da hat es unheimlich gut getan, mal zu sich selbst zu finden.

SZ: Sie haben auch Vorträge über das Burn-out-Syndrom gehalten.

Hitzfeld: Über erfolgsorientierte Führung eines Teams, das war der offizielle Titel. Große Firmen haben mich angefragt, bis zu 40 Vorträge waren das pro Jahr, vor 800 bis 1000 Leuten.

SZ: Woher haben Sie Ihr Wissen bezogen? Haben Sie sich das angelesen oder haben Sie von sich selbst erzählt?

Hitzfeld: Sowohl als auch. Ich habe mich mit entsprechender Literatur befasst, meine eigenen Erfahrungen dazugenommen und dann ein Manuskript erstellt. Ich bin kein Professor, ich habe das an praktischen Beispielen aus meinem Leben erzählt.

SZ: Welche Beispiele haben Sie denn erzählt?

Hitzfeld: Zum Beispiel damals die Ohrfeige von Bixente Lizarazu gegen Lothar Matthäus. In so einem Fall ist der Trainer der Leader, er muss das Heft des Handelns in der Hand halten, er muss sofort reagieren. Und er muss klar kommunizieren: Wir sind eine Einheit!

SZ: Was haben Sie damals denn konkret gemacht?

Hitzfeld: Ich bin mit beiden sofort in die Kabine. Lothar ist ja erst weggelaufen, ich hätte ihn ja laufen lassen können, aber das wäre ein Eklat geworden. Ich darf nicht beleidigt sein, dass hier einer das Training verlässt, ich muss sofort mit ihm reden, und ich muss Lizarazu mitnehmen, damit die beiden gezwungen sind, auch miteinander zu reden. Man muss ohne zu zögern handeln, nichts darf hängen bleiben. Konfliktlösung sofort!

"Das ist alles ein Experiment"

SZ: Wie jetzt nach dem Nürnberg-Spiel: Konfliktlösung sofort.

Hitzfeld: Ja genau. Erst alles deutlich ansprechen wie bei Lucio, aber dann: Vertrauen schenken, wieder aufbauen, in die Verantwortung nehmen.

SZ: Das klassische Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip.

Hitzfeld: Das ist überspitzt formuliert, aber im Grunde ist Führung damit gut beschrieben.

SZ: Würden Sie jetzt, mit Ihrem neuen theoretischen Wissen, einige Konflikte anders lösen als früher?

Hitzfeld: Nicht unbedingt, ich habe mir auch früher immer alles gut überlegt. Natürlich macht man nicht immer alles richtig, das ist ja auch von der Tagesverfassung abhängig. Manchmal ist man hellwach und handelt schnell, manchmal hat man einen schlechteren Tag und denkt, na gut, das wird sich schon wieder einrenken. Und schon hat man einen Konflikt schlecht bearbeitet. Man muss ihn dann schnell nachbearbeiten, spätestens am nächsten Tag.

SZ: Welches Beispiel haben Sie denn genannt für einen Konflikt, den Sie nicht schnell genug gelöst haben?

Hitzfeld: Da fällt mir keiner ein. Ich habe immer gehandelt, zum Beispiel bei Thomas Helmer 1999, als er von der Bank aus in Richtung Tribüne den Mittelfinger gezeigt hat. Am nächsten Tag gab's eine Sitzung, und ich habe gesagt: Entlassen! Da muss man handeln, gerade wenn man als Leader selbst wankt. Wir hatten dieses legendäre Champions-League-Endspiel gegen Manchester United in den letzten Minuten verloren, ich war ja selbst angeschlagen. Da hilft nur eins: Handeln! Zeichen setzen!

SZ: Haben Sie deshalb auch Torwart Oliver Kahn gesagt, er solle mal wieder eine Tür eintreten?

Hitzfeld: Das war zwar bildlich gemeint, aber trotzdem: Sie haben Recht. Natürlich funktioniert so auch eine Mannschaft. Ich brauche ja auch meine Leader auf dem Feld, da werde ich zum Beispiel auch van Bommel in die Verantwortung nehmen. Das ist ein guter, offener Typ, der gefällt mir. Er ist Holländer, frech, selbstbewusst und positiv aggressiv, das braucht man jetzt. Solche Typen muss man stärken.

SZ: Wann haben Sie gespürt, dass es Sie zurückzieht auf die Trainerbank?

Hitzfeld: Ich habe ja immer alle Anfragen, egal welche, abgelehnt. Im Dezember, als Dortmund anfragte, habe ich erstmals überlegt und mich dann selbst gewundert: Oh, dachte ich, ich überlege ja schon wieder! Und als mich dann die Sekretärin von Uli Hoeneß anrief, dachte ich, oh, wenn jetzt die Sekretärin anruft, dann ist das irgendwas Offizielles! Dann wurde mir schon heiß. Ich habe gespürt, was da kommt und dachte: Was mach' ich jetzt? Ich saß gerade in meiner Wohnung in Engelberg und habe mich auf einen Vortrag vorbereitet.

SZ: Und auf einmal wurde aus Theorie Praxis.

Hitzfeld: Seltsam, nicht?

SZ: Viele Leute machen sich schon wieder Sorgen um Sie und fragen: Warum tut er sich das wieder an?

Hitzfeld: Wer noch den alten Hitzfeld vor Augen hat, der fragt sich das berechtigterweise. Ich habe ja wirklich schlecht ausgesehen. Aber ich kann alle beruhigen: Man muss sich keine Sorgen mehr machen. Und ich habe ja auch bewusst gesagt, ich mache das nur vier Monate, und dann ist Schluss.

SZ: ,,Zum jetzigen Zeitpunkt'' sei diese Entscheidung endgültig, haben Sie in einem TV-Interview gesagt.

Hitzfeld: Sie haben gut aufgepasst.

SZ: Ist das die Hintertür, die Sie sich offen lassen?

Hitzfeld: Belassen wir's dabei, dass ich aufhöre. Das ist doch eine klare Aussage.

SZ: Aber ist die aktuelle Lage nicht auch eine Art TÜV in eigener Sache? Sie prüfen, ob Sie dem Geschäft wieder standhalten, ob es Ihnen wieder Spaß macht?

Hitzfeld: Richtig ist: Das ist alles ein Experiment.

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