Süddeutsche Zeitung

Interview mit Jürgen Klopp:"Da hätte noch ganz China gegrinst"

Meistertrainer Jürgen Klopp über den Ausnahmezustand und die Glücksgefühle in Dortmund, wie viele Klubs in der Welt attraktiver sind als die Borussia - und ein neues Verliebtheitsgefühl.

Interview: Freddie Röckenhaus

SZ: Herr Klopp, es gibt Leute in Dortmund, die nicht erst seit den Meisterfeierlichkeiten sagen: So schön wird es nie wieder. Was antworten Sie denen?

Jürgen Klopp: Ja, ich hab' sowas auch schon gehört. Wenn es nur um das Endergebnis geht, dann muss man sagen: Das wird schwer. Gleich wieder deutscher Meister werden, das ist nicht so leicht.

SZ: Man hat nicht den Eindruck, dass es den BVB-Anhängern bei dem Satz nur um den Meistertitel geht. Die Leute haben eher die Angst, dass dieser kollektive Höhenrausch, dieses Jahr der Unschuld sich nicht wiederholen lässt.

Klopp: Das Schöne an positiven Gefühlen ist doch, dass sie immer wieder neu entstehen können. Ich habe an diesem Wochenende, im Stadion, auf der Feier abends, am Sonntag beim Umzug durch die Stadt an mehreren Punkten gedacht: Sowas Schönes werd' ich nicht mehr erleben! Das war jetzt der Höhepunkt! Und dann kamst du um die nächste Straßenecke, und es hat dich wieder überwältigt. Man muss im Leben nicht immer irgendetwas noch mal toppen. Wir sind so konstruiert, dass wir uns immer wieder aufs Neue über etwas freuen können.

SZ: Denken Sie, dass Ihre jungen Spieler das auch so sehen?

Klopp: Hundertprozentig. Dieses letzte Wochenende war das, was wir brauchten, um zu verstehen, was hier los ist. Man hat zum ersten Mal wirklich verstanden, wie groß dieser Verein ist. Borussia Dortmund, das ist eine unglaublich große Energie. Ich konnte bei dem Autocorso keinen Unterschied mehr erkennen: Wer ist Spieler, wer ist Fan? Höchstens noch an den Anzügen, die unsere Jungs trugen, die Fans hatten ja alle Trikots an.

SZ: Man sieht diese Zusammengehörigkeit schon die ganze Saison. Aber so etwas nutzt sich mit der Zeit ab.

Klopp: Definitiv: Nein. Wenn du die ersten Male in unser Stadion kommst und da 80.000 Leute sind, dann denkst du: Boah! Aber man gewöhnt sich nicht daran. Es ist jedes Mal derselbe Kick, wenn du in dieses Stadion reinkommst. Du kriegst immer wieder Gänsehaut. Auf dem Wagen, beim Corso durch die Stadt: Wir haben fast alle mal Tränen in den Augen gehabt, manche haben richtiggehend geheult vor Freude. So etwas willst du wieder erleben. Dir wird an so einem Tag klar: In Dortmund ist Fußball nicht diese schönste Nebensache der Welt. Es ist eine Hauptsache.

SZ: Und das geht auch, wenn in der nächsten Saison mal nicht mehr alles wie am Schnürchen läuft?

Klopp: Diese Mannschaft ist eine ganz besondere Mannschaft. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, diese Mannschaft zu bleiben. Wir werden jetzt nicht am Fließband den nächsten Kevin Großkreutz oder den nächsten Mario Götze produzieren. Das wäre vermessen. Aber die Leute hier, das habe ich spätestens am Sonntag verstanden, sind in weniger fantastischen Phasen mit dem gleichen Gefühl für den BVB da wie jetzt. Dieser Zusammenhalt verkürzt die schlechten Phasen.

SZ: Bei aller Freude: Es gibt jetzt eine größere Erwartungshaltung.

Klopp: Man hat als Mensch die Möglichkeit, glücklich zu werden. Man muss sich aber seine Wünsche so einrichten, dass man sie auch erfüllen kann. Das Leben zwingt einen ja immer dazu, mit Veränderungen umzugehen. Bei uns wissen alle schon: Wir sind in der kommenden Saison kein typischer Meister, sondern wir sind automatisch wieder Herausforderer. Es gibt Schlimmeres. Und es gibt ja sowieso kein Handbuch: So tritt ein deutscher Meister auf.

SZ: Was hat sich mit der Meisterfeier bei Ihnen persönlich verändert?

Klopp: Ich kann jetzt die Fanlieder von Anfang bis Ende mitsingen. Es wird jetzt Leute geben, die sagen: Ach ja, in Mainz war der Klopp auch so mittendrin. Ich freue mich auch total, wenn es gut läuft in Mainz und verfolge das sehr. Aber jetzt bin ich hierher nach Dortmund gekommen und ich muss sagen: Das hat etwas von Sich-neu-verlieben. Wenn ich mir diese Bilder ansehe, von der Übergabe der Meisterschale: Genau so müssen solche Bilder aussehen! Diese Gesichtsausdrücke der Jungs! Mich erinnert das an Bilder vom AC Mailand, wenn die die Champions League gewonnen haben, diese Gesichtsausdrücke von völligem Glück. Jetzt haben unsere Jungs auch solche Bilder von sich selbst. Hach, das ist Wahnsinn.

SZ: Sie selbst waren in vorderster Front dabei. Es gibt diese Szene, wo sie den Schlachtruf "Bambule, Randale, Dortmund die Schale!" brüllen.

Klopp: Das kann man wohl sagen. Aber ich weiß vor allem: Die Bindung der Jungs an Borussia ist durch dieses Erlebnis ins Unglaubliche gestiegen. Die wissen jetzt endgültig: Es gibt keine zwanzig anderen Vereine, bei denen du sowas erleben kannst. Da standen am Sonntag 40000 Leute den ganzen Tag hinter der Bühne. Die haben nichts gesehen, aber für die war es eben das Entscheidende, dabei gewesen zu sein. Die waren total gut drauf. Wenn du das Glück an dem Tag eingesammelt hättest und es in die Welt rausgeschossen hättest, dann hätte noch ganz China gegrinst.

SZ: Ihr Spielgestalter Nuri Sahin hat wie verrückt mitgefeiert, hat immer wieder "Wir sind alle Dortmunder Jungs" gesungen - aber er geht jetzt trotzdem zu Real Madrid. Ganz so weit scheint es mit der Identifikation doch nicht zu gehen.

Klopp: Mit Nuri war es nicht einfach. Fast alle Argumente, die ich ihm nennen konnte, hatte er selbst schon für sich durchdacht. Er hat tief drinnen die Vorstellung, mal eine tragende Rolle bei Real, Barcelona oder Manchester United spielen zu wollen. Und er wollte sich nicht eines Tages sagen müssen, dass er die Chance dazu nicht ergriffen hat. Ich persönlich habe nicht die Angst, ich könnte woanders etwas verpassen. Ich ticke da anders. Aber man muss akzeptieren, dass es für Nuri ein Kindheitstraum ist. Wir haben bis zur letzten Minute gedacht, dass er sich für uns entscheidet.

SZ: Nebenbei verdient man in Madrid wesentlich mehr als in Dortmund.

Klopp: Das stimmt wahrscheinlich, aber bei Nuri glaube ich nicht, dass das ein wesentlicher Antrieb war. Wir bewerfen ja unsere Spieler auch nicht mit Erdnüssen, statt sie zu bezahlen.

SZ: Ihr Vorstandschef Hans-Joachim Watzke hat Sahin mit auf den Weg gegeben, Dortmund würde ihn sofort zurückholen, falls er es nicht schafft bei Real Madrid. Passt so etwas in Ihr Konzept?

Klopp: Nuri ist unser Junge. Natürlich würden wir ihn zurückholen. Aber ich wünsche ihm jetzt erstmal, dass er sich durchsetzt, und traue ihm das auch zu. Es ist jetzt die Rede davon, ihn in einem halben Jahr oder einem Jahr wieder hier zu haben. So etwas halte ich für Unsinn. Aber er ist 22 Jahre. Natürlich würden wir ihn zurückholen, wenn sich der Mythos Madrid für ihn dann doch als kleiner herausstellt als gedacht.

SZ: Ist der Weggang von Sahin nicht eine Art Sündenfall? Beginnt da nicht die Erosion dieser Mannschaft?

Klopp: Um das mal ganz klar zu sagen: Keiner unserer Spieler will weg! Ich habe auch allen klar gesagt: Wer jetzt sagt, er will in Dortmund bleiben, von dem will ich mindestens die ganze Saison lang nichts mehr hören von anderen Vereinen. Das gilt bei uns. Mario Götze zum Beispiel: Der Junge weiß, dass es genau einen Ort auf diesem Planeten gibt, an dem er genau richtig ist - und das ist Borussia Dortmund. Für Mario besteht da gar kein Zweifel dran, für seinen Vater nicht, für seinen Berater nicht. Was spricht dagegen, jetzt erstmal fünf Jahre für den BVB zu spielen? Mario ist in fünf Jahren auch erst 23. So sehen das alle unsere jungen Spieler.

SZ: Wenn Dortmund nun in der Champions League seine Spieler präsentiert, werden die Angebote der ganz großen Klubs immer höher werden. Das mag die Erz-Dortmunder Großkreutz, Götze oder auch Marcel Schmelzer nicht so beeindrucken, aber wird Ihr Konzept auf Dauer zu halten sein?

Klopp: Ich möchte auf keinen Fall, dass mir irgendetwas als Kampfansage ausgelegt wird. Ich sage nur: Mit uns hat vor ein, zwei Jahren auch niemand gerechnet. Wir beweisen aber gerade: Es gibt im Fußball unerwartete Entwicklungen. Man wird sehen, was aus Manchester United eines Tages ohne Ferguson wird, der in seiner Ära wahrscheinlich eine Million richtiger Entscheidungen getroffen hat, oder aus Arsenal, wenn Arsene Wenger mal nicht mehr die Dinge so überragend lenkt.

SZ: Das soll jetzt schon heißen: Die Attraktivität von Borussia Dortmund ist für Spieler nicht so viel schlechter als die der sogenannten großen Klubs.

Klopp (lacht): Klar ist, dass es im Fußball noch ein paar andere große Mythen gibt, nicht nur Dortmund und Real Madrid. Aber es sind nur sehr wenige Klubs, die im Gesamtpaket aus Fluidum, Titelchancen und Bezahlung vor uns stehen. Manchester City mag Spielern 11 Millionen Euro Jahresgehalt bieten, in Russland kannst du wahnsinniges Geld verdienen, du musst aber zum Lokalderby 800 Kilometer fliegen. Beides reizt keinen unserer Spieler. Vom BVB geht man allenfalls zu vielleicht fünf anderen Klubs in der Welt. Wenn überhaupt.

SZ: Trotzdem wird Dortmund finanziell attraktiver werden müssen, um diese Mannschaft auf Dauer zusammen zu halten - oder sehen Sie das romantischer?

Klopp: Es ist doch klar, dass wir uns auch in dem Punkt weiter entwickeln müssen. Man kann nicht nur auf emotionale Bindung der Spieler setzen. Aber noch mal: Außer bei Barcelona, wo alles stimmt, ist es nirgendwo so viel attraktiver. Barça hat die Zuschauer und die Begeisterung, spielt tollen Fußball, gewinnt Titel, hat viel Geld, und die Stadt soll ja auch schön sein. Ich war noch nicht da, aber man hört es so.

SZ: Mal ganz praktisch: Wie kompensieren Sie den Verlust Ihres Spielmachers Sahin? Am vergangenen Samstag haben Sie auf Sahins Position Mario Götze spielen lassen.

Klopp: Ja, Mario kann so ziemlich alles spielen. Er hat das auf Anhieb klasse gemacht. Wenn er neben einem starken Defensiv-Sechser gespielt hätte, also neben Sven Bender oder Sebastian Kehl, wäre er sicher noch viel besser gewesen. Aber warten Sie mal ab, wenn Sie Ilkay Gündogan, den wir aus Nürnberg geholt haben, auf der Position bei uns sehen.

SZ: Viele sagen, dass Bayern München in der vergangenen Saison schon deshalb nicht mit Dortmund mitgehalten hat, weil Bayern in der Champions League beansprucht war, der BVB aber nicht. Schon allein wegen der Doppelbelastung wird Dortmund nächstes Jahr nicht noch einmal so auftrumpfen können.

Klopp: Wir haben in der vergangenen Saison eine Europa-League-Gruppe mit Sevilla und Paris Saint Germain gespielt, die mindestens so schwer war, wie die Champions-League-Gruppe der Bayern. Wir haben da viele wertvolle Erfahrungen gesammelt. Zum Beispiel, wie sich Sevilla gegen uns zu Hause 60 Minuten lang eingeigelt hat und dermaßen auf Zeit gespielt hat, dass meine Spieler hinterher fassungslos waren über diese Feigheit. Und der russische Schiedsrichter hat Sevilla machen lassen. Nein, für uns ändert sich da nicht so viel. Man verbraucht gegen einen schwächeren Gegner genauso viel Energie wie gegen einen stärkeren. Man läuft ja gegen jeden Gegner gleich viel.

SZ: Trotzdem sagen Sie selbst, dass Sie in der kommenden Saison wieder nur Herausforderer des FC Bayern und anderer Klubs sind. Wie passt das zusammen?

Klopp: Wenn wir - mal als Beispiel - bei unserem Sieg in München Robben und Ribéry nicht gedoppelt und getrippelt hätten, weiß ich nicht, was passiert wäre. Die Bayern sind mit uns an dem Tag nicht klargekommen, wir haben sie aber doch keineswegs dominiert, sondern sind durch Kontertore zum Sieg gekommen. Wenn man sich solche Dinge vor Augen führt, dann weiß man schon mal: Es darf bei uns nicht uncool werden, dass wir uns total verausgaben. Ich sage ja auch nicht, dass wir nicht wieder eine sehr gute Saison spielen. Aber vielleicht sind wir am Ende auch überglücklich, wenn wir Zweiter oder Dritter werden.

SZ: Einen Triumphzug wie am letzten Wochenende würde das aber wohl nicht verursachen.

Klopp: Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir haben in Dortmund ja ganz oft solche emotionalen Höhepunkte. Als wir vom Derbysieg in Schalke zurück kamen, hat uns eine riesige Menschenmenge mitten in der Nacht am Parkplatz empfangen und abgefeiert, als gäbe es kein Morgen. Solche Glücksmomente, wo kriegt man die schon? Wenn man am Ende des Lebens abtritt und hat zwanzig solche Momente gehabt, dann kannst du von dir sagen, du bist ein reicher, glücklicher Mensch. Vielleicht reichen auch weniger als zwanzig (lacht). Die Strahlkraft dieses Vereins muss wachsen, wachsen, wachsen. Wir merken ja jetzt schon, dass fast jeder junge Spieler, der auf diese Reise gehen will, zu uns möchte. Deswegen: Natürlich wollen wir mehr solche Erlebnisse. Jeder von unseren Jungs ist da ganz elektrisiert, wenn es darum geht.

SZ: Wie gehen Sie mit der Dankbarkeit um, die Ihnen in der Stadt und im Verein entgegenschlägt?

Klopp: Dankbarkeit ist immer beidseitig. Ich als Trainer kann ja erzählen, was ich will. Aber machen müssen es auf dem Platz die Jungs. Ich empfinde denen gegenüber Dankbarkeit. Ich gönne diesen Jungs alles. Ich will nur von keinem mehr etwas von anderen Klubs hören als von Borussia Dortmund.

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Quelle:
SZ vom 20.05.2011
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