Interview mit Jürgen Hingsen:"Einige dopen auf Teufel komm' raus"

Ex-Zehnkampf-Weltrekordler Jürgen Hingsen über den Niedergang der deutschen Leichtathletik und die Doping-Problematik.

Thomas Hummel

Jürgen Hingsen, 51, ist eine der schillerndsten Figuren der deutschen Leichtathletik. In den achtziger Jahren gehörte er zu den besten Zehnkämpfern der Welt, dreimal hielt er den Weltrekord. Bei Großveranstaltungen verlor Hingsen zwar stets gegen den Briten Daley Thompson, doch gewann er einmal WM-Silber, zweimal EM-Silber und einmal Olympia-Silber. Ein Gespräch über den Niedergang der deutschen Leichtathletik, die Ungerechtigkeiten im System Doping und seine drei Fehlstarts im 100-Meter-Lauf bei Olympia 1988.

Interview mit Jürgen Hingsen: Ewiges Duell, immer der gleiche Gewinner: Jürgen Hingsen (r.) jagte auch bei der WM 1983 vergeblich hinter Daley Thompson her.

Ewiges Duell, immer der gleiche Gewinner: Jürgen Hingsen (r.) jagte auch bei der WM 1983 vergeblich hinter Daley Thompson her.

(Foto: Foto: Getty)

sueddeutsche.de: Herr Hingsen, Sie waren als Sportler insgesamt sehr erfolgreich - doch in Erinnerung blieben bei vielen Deutschen die zweiten Plätze und die drei Fehlstarts 1988 in Seoul.

Jürgen Hingsen: Das ist schade. Damals in Seoul hatte ich eine Knieverletzung, hätte nur zweimal Hochspringen können und wollte einfach alles auf eine Karte setzen. Ich habe alles riskiert, denn eines war klar: Zweiter wollte ich nicht nochmal werden.

sueddeutsche.de: Haben Sie noch Kontakt zu Ihrem großen Rivalen Daley Thompson?

Hingsen: Ja, er war bei meinem 50. Geburtstag und ich treffe ihn vielleicht in Berlin bei der Leichtathletik-WM. Er kommentiert dort für die BBC.

sueddeutsche.de: Bei der WM wird dieser Sport eine Aufmerksamkeit genießen wie lange nicht. Wieso ging es mit der deutschen Leichtathletik derart bergab?

Hingsen: Ich sehe da vor allem gesellschaftliche Gründe. Es beginnt beim Schulsport, der sträflich vernachlässigt wird. Die Voraussetzung für meine Karriere wurden in der Schule gelegt, damals waren die Sportlehrer noch motiviert. Doch heute findet in den Schulen Leichtathletik oder Turnen kaum noch statt.

sueddeutsche.de: Woher wissen Sie das?

Hingsen: In Nordrhein-Westfalen stehe ich Pate für die Aktion einer Krankenkasse, die Kinder motivieren will, das Sportabzeichen zu machen. Bundesjugendspiele zum Beispiel, früher gang und gäbe, fallen heute oft aus.

sueddeutsche.de: Keine Ehren- oder Siegerurkunde mehr?

Hingsen: Traurig, aber wahr. Die Krankenkassen engagieren sich, weil wir uns derzeit die Kranken von Morgen erziehen. Bewegungsmangel und schlechtes Essen, das sind gravierende Probleme.

sueddeutsche.de: Aber ist das der einzige Grund, warum deutsche Leichtathleten bei Großveranstaltungen kaum mehr Medaillen erringen?

Hingsen: Die Leichtathletik ist hierzulande derzeit zweitklassig und wird bald in die Drittklassigkeit absteigen, wenn nichts passiert. In anderen Sportarten kann man jetzt viel Geld verdienen. Bei uns hören erfolgreiche Nachwuchsathleten auf, um sich auf die berufliche Laufbahn zu konzentrieren.

sueddeutsche.de: Den wirtschaftlichen Hintergrund der Sportler zu verbessern, wäre eigentlich Aufgabe des Verbands.

Hingsen: Es stimmt, dass der DLV hier schlecht aufgestellt ist. Er müsste sich mehr kümmern um die Vermarktung und finanzielle Absicherung seiner Sportler. Auf der anderen Seite leidet die deutsche Leichtathletik darunter, von den Medien fast ignoriert zu werden. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben sie fast aus dem Programm verbannt. Zu meiner Zeit waren Deutsche Meisterschaften für vier Stunden Liveübertragung gesetzt. Und die Sponsoren wollen mediale Aufmerksamkeit.

sueddeutsche.de: Wo keine Erfolge sind, da ist kein Fernsehen.

Hingsen: Die Leichtathletik hat sich über den Globus hinweg professionalisiert. Im Vergleich zur Lage vor 25 Jahren sind viel mehr Nationen in der Weltspitze, was es für deutsche Athleten wesentlich schwieriger macht. Der Sportler erhält nur Aufmerksamkeit und verdient Geld, wenn er ganz vorne dabei ist. Bei mir war es ja schon eine Bestrafung, wenn ich wieder "nur" Silber gewonnen hatte. Dazu kommt aktuell das Thema Doping.

"Als Vierter bist Du doch der Blödmann"

sueddeutsche.de: Sie glauben, deutsche Athleten dopen nicht?

Hingsen: Ich will gar nicht ausschließen, dass auch einzelne Deutsche zu unerlaubten Mitteln greifen, aber insgesamt wird hier intensiver kontrolliert als woanders. Einige dopen doch auf Teufel komm' raus. Was bei den Amerikanern alles rausgekommen ist in den vergangenen Jahren! Und so entsteht ein Ungleichgewicht, das zu weniger Medaillen für deutsche Athleten führt. Auch das schreckt Jugendliche ab, wenn sie merken, dass der Weg nur über illegale Mittel führt.

sueddeutsche.de: Wie kommen die Deutschen aus diesem Dilemma heraus?

Hingsen: Das geht nur, wenn alle Nationen im Anti-Dopingkampf an einem Strang ziehen und anhand von Genanalysen oder ähnlichen Tests die Sportler überprüfen können. Denn die Leistungsgesellschaft verlangt Siege. Wenn ich ein talentierter Sportler bin, stehe ich vor der Frage: Begnüge ich mich mit dem vierten Platz, mit dem ich ein wenig Sporthilfe bekomme - oder mache ich es wie die Konkurrenz, deren Praktiken bekannt sind. Deshalb verteufle ich auch nicht den Sportler, sondern das System. Die Verbände müssen flächendeckend kontrollieren.

sueddeutsche.de: Aber selbst Kontrollen helfen nichts, wenn etwa Marion Jones angeblich 160 Mal negativ getestet wird und erst später vor Gericht alles zugeben muss.

Hingsen: Die Kontrollmöglichkeiten hinken immer hinterher. Ich habe mir die Dopingpraxis ja mal erklären lassen - das ist erschreckend.

sueddeutsche.de: Bemitleiden Sie heutige aktive junge Sportler, die mit diesem Zwiespalt leben müssen?

Hingsen: Natürlich. Als Vierter bist du doch der Blödmann. Und die anderen sind voll wie die Haubitzen, aber es kann ihnen niemand nachweisen. Das kann man ja sehen - also ich merke es, wenn jemand dopt. Die Körperstruktur und die Beschaffenheit der Muskeln offenbaren es mir.

sueddeutsche.de: Die Verbände erwecken aber nicht den Eindruck, am Anti-Dopingkampf ernsthaft interessiert zu sein.

Hingsen: Bei den Olympischen Spielen in Peking wurde auf eine Art und Weise kontrolliert, da muss den Kontrolleuren vorher schon klar gewesen sein, dass niemand erwischt werden kann. Das ist doch alles eine große Lüge. Hätte es 20 oder 100 Dopingfälle gegeben, dann wären die Olympischen Spiele tot. Weil die Veranstaltung viel zu sehr abhängig ist vom Geld der Sponsoren, kann man sich so eine Negativwerbung nicht erlauben.

sueddeutsche.de: Zu Ihrer Zeit war Doping noch kein öffentliches Thema.

Hingsen: Damals gab es sicher verschiedene Fälle, aber Doping war noch nicht durchorganisiert. Ich wüsste keinen, der systematisch gedopt hat - außer vielleicht die Sportler aus der damaligen DDR.

sueddeutsche.de: Wussten Sie davon?

Hingsen: Wir haben es vermutet. Gewusst haben wir es nicht, weil wir keinen Kontakt zu den ostdeutschen Sportlern hatten.

sueddeutsche.de: Was erwarten Sie sich von der WM in Berlin?

Hingsen: Man hat sehr spät angefangen, die WM selbst in Berlin zu vermarkten. Da ist viel zu wenig gemacht worden. Trotzdem scheint das Stadion voll zu werden, weil es sehr attraktive Wettkämpfe geben wird. Ich hoffe, dass der Funke überspringt, ähnlich wie bei der WM 1993 in Stuttgart, als die Leute am Bildschirm gesehen haben, wie toll Leichtathletik ist. Da kann nicht mal Boxen oder Fußball mithalten, weil es in kurzen Zeiträumen sehr viele Höhepunkte gibt.

sueddeutsche.de: Geben Sie Pascal Behrenbusch eine Chance im Zehnkampf?

Hingsen: Ich hoffe, dass er unter die ersten Acht kommt. Leider mussten ja Andre Niklaus und Michael Schrader absagen.

sueddeutsche.de: Wer gewinnt den Königswettbewerb?

Hingsen: Die Amerikaner sind stark. Roman Sebrle, der Weltrekordhalter, ist vielleicht über den Zenit hinaus, es gibt aber einige Athleten, die ganz vorne landen können.

sueddeutsche.de: Sie haben die Europameisterschaft 1986 in Stuttgart erlebt. Was kommt auf die deutschen Athleten bei der Großveranstaltung im eigenen Land zu?

Hingsen: Es herrscht eine wahnsinnige Euphorie, davon können die Athleten getragen werden. Das bringt zehn Prozent mehr. Deshalb glaube ich auch, dass einige über sich hinauswachsen werden. Ich hoffe, wir werden mindestens fünf Medaillen gewinnen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: