Fußball:"Den Videobeweis abzuschaffen, wäre ein Fehler"

Knut Kircher

Einst einer der besten deutschen Fußball-Schiedsrichter, jetzt Ingenieur bei einem Autobauer: Knut Kircher.

(Foto: dpa)

Der Videobeweis treibt viele Fußballfans in die Resignation. Im SZ-Interview erklärt der ehemalige Bundesliga-Schiedsrichter Knut Kircher, warum er wichtig ist, aber Neuerungen dringend nötig sind.

Interview von Matthias Schmid

Knut Kircher war einer der besten Schiedsrichter der Fußball-Bundesliga. Der gebürtige Tübinger, 49, leitete auch zahlreiche internationale Spiele. Nach seiner aktiven Karriere arbeitet der Ingenieur nun bei einem großen schwäbischen Autobauer. Im SZ-Interview spricht Kircher über einen sinnvollen Umgang mit dem Videobeweis und darüber, was Feuerwehrleute mit Schiedsrichtern gemein haben und warum das Handspiel des Schalkers Di Santo im Pokalhalbfinale zwei Meinungen zulässt.

SZ: Herr Kircher, nach den Spielen zwischen Mainz und Freiburg sowie dem Pokalhalbfinale zwischen Schalke und Frankfurt gab es wieder öffentliche Diskussionen um Sinn und Unsinn des Videobeweises. Können Sie das als ehemaliger Schiedsrichter nachvollziehen?

Knut Kircher: Welchen Anspruch hat denn die Öffentlichkeit? Welches Szenario wünscht sich denn der ganz normale Fußballfan? Den Videobeweis abzuschaffen, wäre für mich ein Fehler. Es wird ihn weitergeben, aber was soll er dann erfüllen?

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Er soll den Fußball gerechter machen, aber den eigenen Lieblingsverein nicht benachteiligen.

Das liegt im Auge des Betrachters. Nehmen wir das jüngste Beispiel in Mainz. Der Videobeweis hat sowohl für Gerechtigkeit auf Seiten der Mainzer als auch auf Seiten der Freiburger gesorgt. Denn die Regel ist halt so. Aber er beschert gleichzeitig große Emotionen, die Freiburger Spieler waren bereits in der Kabine und fragten sich, warum sie noch mal raus mussten, weil sie keine Fernsehbilder hatten, auf der das Handspiel zu sehen war.

Hätten Schiedsrichter Winkmann und Videoassistentin Steinhaus schneller zu einer Entscheidung kommen müssen?

Es geht immer schneller. Aber hatten wir bis zum 30. Spieltag mit 270 Spielen schon mal so einen Fall? Nein! Wir reden in der ersten Saison in einer Pilotphase mit Videobeweis davon, dass alles schneller gehen muss. Natürlich muss es schneller gehen. Die Erwartungshaltung ist, dass es zügig schneller geht. Aber wir erleben viele Situationen zum ersten Mal. Dass ein Sachverhalt erst nach dem Pausenpfiff entdeckt worden ist, ist ein solches Beispiel. Es muss sich einspielen.

Aber hätte der Schiedsrichter, nachdem er das Signal aus Köln bekommen hat, nicht die Mannschaften aufhalten sollen?

Natürlich, hat er auch! Soll er den Spielertunnel aber absperren lassen, sodass keiner reinkommt? Es geht jetzt darum, aus diesem Fall neue Erkenntnisse zu ziehen und die Abläufe so zu optimieren. Es ist wie bei der Feuerwehr, die regelmäßig ihre Einsätze übt, aber dann plötzlich zu einem Brand kommt, der sie vor ganz neue Herausforderungen stellt. Es geht beim Videobeweis auch viel um Routine, Klarheit und Erfahrungen, die man sammelt und dann beim nächsten Mal besser umsetzt. Bleiben wir im Fußball und nehmen Sie das tägliche Training, um Spielzüge einzustudieren, klappt auch nicht beim ersten Mal, aber dann immer besser.

Im vorliegenden Fall gab es allerdings auch Verwirrung darüber, ob der Videobeweis nach der Pause und nach dem Schlusspfiff überhaupt noch angewendet werden darf. Laut dem Internationalen Gremium für Fußballregeln (IFAB) ist das möglich, aber der DFB hat das abgeändert und lässt den Videobeweis nach dem Schlusspfiff nicht mehr zu. Sollten nicht alle mit den gleichen Regeln spielen?

Überall auf der Welt müssten beim Videobeweis die gleichen Regeln gelten, das wäre wünschenswert. Man muss die Schiedsrichter allerdings auch mal in Schutz nehmen: Es gibt beim Videobeweis und auch bei anderen Entscheidungen ganz besondere Feinheiten im Regelwerk. Es gibt Szenen, die ein Schiedsrichter im Schlaf beherrscht, aber auch welche, die er nur einmal gehört hat in der Theorie. Diese Fälle stehen zwar im Regelheft drin, aber es ist doch nur menschlich, dass diese dann nicht so schnell oder fehlerfrei abgerufen werden können, wie das die Fußballfans oft verlangen.

Würde es denn der Akzeptanz des Videobeweises helfen, wenn der Fan im Stadion die Szene, die zur Revision geführt hat, auf der Leinwand sehen könnte?

Es wäre sicherlich sinnvoll, mehr Transparenz zu erreichen - aber nur bei Szenen, die ganz klar in Schwarz oder Weiß zu unterscheiden sind. Aber es gibt da noch andere Ideen, die sich umsetzen ließen. Schauen Sie zum Beispiel zum Basketball, wo es keine Bilder gibt, aber die Entscheidung über den Hallensprecher kommuniziert wird.

Wenn Sie gerade den Basketball nennen: Der Videoassistent im Fußball darf nur bei klaren Fehlentscheidungen eingreifen. Müsste man da nicht eine Art Shot Clock einführen, um den Ablauf zu verkürzen. Man gibt sich zum Beispiel 60 Sekunden, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

Ich weiß nicht, ob eine bestimmte Zeitspanne ein sinnvolles Instrument dafür ist, um eine klare Fehlentscheidung zu erkennen. Manchmal geht es schneller, manchmal dauert es länger, das hängt auch davon ab, welche Kameraeinstellung einem vorliegt, um die Szene auflösen zu können. Nehmen Sie doch mal zu Hause auf der Couch die Stoppuhr in die Hand und schauen, wieviel Zeit von der ersten realen Wahrnehmung bis zur dritten Zeitlupe vergeht. Machen Sie den Spaß mal. Da werden Sie feststellen, dass das auch mal eineinhalb Minuten dauern kann. Das geht nicht so schnell. Was wollen die Fans? Schnelligkeit, Sicherheit, Gerechtigkeit? Transparenz? Sie müssen sich entscheiden. Irgendwann führt das zu einer digitalen Überwachung des Spiels, in dem dann Roboter die Entscheidung treffen werden.

Welche Hilfe erwartet der Schiedsrichter auf dem Platz?

Er erwartet sich bei einer klar definierten Eingriffsgrenze eine Intervention des Videoassistenten, wenn er zu 100 Prozent falsch liegt. Und das möglichst zeitnah. Es geht um die klaren Fehlentscheidungen, um Schwarz oder Weiß, und diese Schwarz-Weiß-Situationen liegen in einem Spiel vielleicht bei 30 Prozent. 70 Prozent der Entscheidungen sind in einem Graubereich, Ermessenspielraum, die man unterschiedlich bewerten kann, die diskutabel sind und die den Fußball so schön machen, weil er andere Meinungen zulässt. So wie zum Beispiel das Handspiel des Schalkers Franco Di Santo im Pokalhalbfinale gegen Frankfurt in der Nachspielzeit.

In der Vorrunde gab es ja noch viel mehr Aufregung um den Videobeweis, weil sich die Zentrale in Köln häufiger auch in diesen Graubereich eingemischt hat. Hat der DFB aus seinen Fehlern gelernt?

Man hat vieles von dem umgesetzt, was man sich im Wintertrainingslager der Schiedsrichter vorgenommen hat. Aber man darf nicht vergessen, dass der Videobeweis noch immer in einer Pilotphase steckt. Das hat man in der Öffentlichkeit schnell verdrängt.

Was könnte man Ihrer Meinung noch optimieren?

Die Grenzen dafür, wann der Videoassistent eingreift, müssen noch klarer werden. Was sind Fehlentscheidungen, die sich in Schwarz oder Weiß aufteilen lassen? Und natürlich eine schnellere Umsetzung. Und das dritte Thema ist: Wie schaffe ich eine klarere Transparenz? Und daran arbeiten alle bereits unter Hochdruck. Ich weiß aber nicht, ob wir damit alle zufriedenstellen können oder es immer noch Fans gibt, die sich eine Rückkehr zum traditionellen Fußballspiel wünschen. Im Fußball gibt es so viele Emotionen, wir haben ja gesehen, dass es trotz des Videobeweises nach wie vor viele Szenen gibt, über die sich trefflich streiten und diskutieren lässt.

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