Süddeutsche Zeitung

Inter Mailand:Abhängig vom gutmütigen Riesen

Romelu Lukaku beweist bei Inter seine Eignung für die große Fußballbühne. Vor dem Champions-League-Spiel in Mönchengladbach ist der Stürmer Mailands letzte Hoffnung.

Von Oliver Meiler, Rom

Wenn es einer von der kleinen Nummer zum "Gigante buono" bringt, dem gutmütigen Riesen, ist schon richtig viel gut gelaufen. Als der Belgier Romelu Lukaku, 1,91 Meter groß und 93 Kilogramm schwer, vor eineinhalb Jahren zu Inter Mailand wechselte, dem italienischen Verein mit dem größten Selbstbemitleidungsdrang, da ergab vor allem die Transfersumme Gesprächsstoff: 67,2 Millionen Euro. So viel hatte Inter noch nie ausgegeben für die Verpflichtung eines Spielers. Und weil der Neue bei seinem früheren Arbeitgeber Manchester United nicht unumstritten gewesen war, weil dort manche geradeaus und wider die Kraft statistischer Argumente an seiner Eignung für die große Bühne gezweifelt hatten, war die Verwunderung doppelt groß. Doch Lukaku hat es geschafft: "Gigante buono" - so nannte man weiland auch den großen Giacinto Facchetti, Glorie des Vereins, elegant und geliebt. Mehr Wertschätzung geht gar nicht.

Obwohl Inter am Dienstagabend in der Champions League gegen Borussia Mönchengladbach bereits im fünften Gruppenspiel am äußersten Rand des Ausscheidens steht, mit nur zwei Punkten bis dato, käme es dennoch niemandem in den Sinn, die Schuld ausgerechnet bei Lukaku zu suchen. Im Gegenteil: Sollte entgegen allen Prognosen doch noch etwas gehen für die Italiener, für einen letzten Hoffnungsschimmer, dann liegt wieder alles an seinem großen, wuchtigen Auftritt.

Lukaku ist einer jener Spieler, die mit ihrer schieren Präsenz ein ganzes Drittel des Rasens unter ihre Kontrolle bringen können. Die Kameraden spielen ihn mit langen Pässen hoch an, das muss gar nicht sehr präzise sein, und sie vertrauen dann darauf, dass der "Pivot" im Sturm, dieser Dreh- und Angelpunkt in der Ferne, den Ball aus der Luft holt, mit dem Kopf oder der Brust, und ihn schnell auf den Boden drückt, deckt, hegt und dabei mit den Armen rudert, damit sich kein Gegner ans Leder macht - bis die Mitspieler nachrücken.

Lukaku gegen Ibrahimovic: Die einstigen Kollegen liefern sich nun ein Mailänder Stadtduell

Das ist Lukakus Beitrag zum Spiel, neben dem Toreschießen. Im Grunde ist es seine einzige Rolle, die Rolle eines klassischen Neuners. In den Niederungen konkurrierender Beine ist alles komplizierter.

In England, wo sie diese Schnellverlagerung auf den Pivot als Verlegenheitslösung für mangelhaften Spielaufbau erfanden, hat Lukaku aus Molenbeek bei Brüssel, Sohn eines Fußballers, den Großteil seiner bisherigen Karriere zugebracht: drei Jahre beim FC Chelsea, der ihn zwischendurch an West Bromwich Albion auslieh; vier Jahre bei Everton; zwei Jahre bei Man United.

In Manchester lernte er auch jenen Mann kennen, der ihm nun in Mailand durch einen Zufall des Lebens die Stellung als halber König der Stadt streitig macht, mit 39 Jahren und dem Biss eines nimmersatten Zwanzigjährigen: Zlatan Ibrahimovic vom AC Mailand führt gerade das Torschützenklassement der Serie A an.

"Ibra" also sagte einst zum Kollegen Lukaku, als der nach Manchester kam: "Ich gebe dir 50 Pfund für jeden Ball, den du stoppen kannst." Es ist nicht überliefert, wie ernst er das meinte, bei Ibrahimovic ist das ja immer eine Mischung aus tollkühner Megalomanie und subtil angedeuteter Spaßnummer. Jedenfalls ging Lukaku damals der Ruf voraus, er verstolpere viel zu viele Bälle, als dass man ihn zu den ganz Großen zählen könnte. Obwohl seine Torquote schon immer ziemlich beträchtlich war: Im belgischen Nationalteam etwa ist er mit seinen 57 Treffern in 89 Spielen mittlerweile der beste Torschütze der Geschichte, und das mit 27 Jahren. Dennoch, die Zweifel an seinen technischen Fähigkeiten, am Gefühl im Fuß, trübten immer die Gesamtbeurteilung des Spielers.

Das hat sich nun in Mailand geändert, ziemlich fundamental sogar, auch seine Technik ist besser geworden. Inters Trainer Antonio Conte schwört auf Lukaku, der Belgier passt kongenial zu seinem elementaren, kontrollierten Fußball. Conte mag keine Fantasten im Team, die im Spiel plötzlich mal das Licht anknipsen mit einem Kunststück, mit einem Trick oder einem Pässchen aus dem Nichts, wie das zum Beispiel der Spielmacher Christian Eriksen vollbringen könnte: Den Dänen, den sie von Tottenham Hotspur holten, lässt Conte meistens auf der Bank sitzen, obwohl der Verein einen Haufen Geld für ihn bezahlt. Conte sind Spieler lieber, die seine taktischen Anweisungen ausführen, so, wie Soldaten den Befehlen eines Generals folgen. Auch "Big Rom" ist so einer, im Grad eines hohen Offiziers.

Inter ist "Lukaku-dipendente", heißt es in Italien, das Schicksal hängt also oft allein an der Leistung und den Toren des Angreifers. Im Duo mit dem Argentinier Lautaro Martinez, der an guten Tagen wie ein Derwisch um Lukaku herumwirbelt und ihn mit tausend Pässen versorgt, bilden sie den sogenannten "Lu-La-Land"-Sturm - eine schöpferische, sinnmäßig aber recht enigmatische Anlehnung der Medien an den Film "La La Land". In der Meisterschaft funktioniert das gut: Inter ist Zweiter, allerdings fünf Punkte hinter Milan.

Eine kleine persönliche Revanche über Ibrahimovic ist Lukaku immerhin im vergangenen Februar gelungen: Kurz vor dem Ausbruch der Pandemie gewann Inter das wohl aufregendste Mailänder Derby der letzten Jahre nach langem Rückstand mit einem furiosen Finale 4:2. "Die Stadt hat einen neuen König", postete Lukaku danach in den sozialen Medien. Das war ein Post im "Ibra"-Style, etwas prollig, und er wollte so gar nicht zum sanften, bescheidenen Wesen des Belgiers passen.

Lukaku ist beliebt in Italien, er spricht auch schon erstaunlich gut Italienisch, acht Sprachen beherrscht er nun bereits. Und er liebt seine Mutter so sehr und offenkundig, dass es jedem Italiener warm ums Herz wird. Sie stehe für alles, was er geworden sei, sagte Lukaku neulich in einem bewegenden Interview. Als es der Familie manchmal am Geld fehlte, sei trotzdem immer genug Essen da gewesen für die Kinder, weil die Eltern darauf verzichteten. Er vergesse das nie. Wer Hunger gelitten habe, der fürchte nichts mehr als den Hunger: keinen Druck, keine Kritik.

Wenn der "Gigante buono" ein Tor schießt, formt er mit seinen Händen ein A. Es steht für Adolphine, die Mamma.

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Quelle:
SZ vom 01.12.2020
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