Veröffentlichte Medaillen-Erwartung:Realitätsferne Vorgaben für deutsche Sportler

86 Medaillen, davon 28 goldene: So haben die deutschen Leistungssport-Planer im Herbst 2008 die Ziele für die Sommerspiele in London formuliert. Die Vorgabe wird deutlich verfehlt werden. Die Diskrepanz sagt jedoch wenig über die Leistungsstärke der deutschen Sportler aus - sondern sehr viel über die Realitätsferne der Vorgaben.

Claudio Catuogno, London

Am Freitagnachmittag verschickte das Bundesinnenministerium (BMI) eine Mail, angehängt war eine Datei mit dem Namen "Medaillenziele.doc". Jetzt sind die Zahlen auf dem Markt, und jeder kann nachlesen, wie viele Medaillen die deutschen Sportler eigentlich hätten gewinnen sollen bei den Spielen in London: 86. Und damit mehr als doppelt so viele, wie sie bis Freitagabend in der Bilanz stehen hatten.

Germany's Silke Spiegelburg reacts during the women's pole vault final at London 2012 Olympic Games

Enttäuschung nach Platz vier im Stabhochsprung: Silke Spiegelburg.

(Foto: REUTERS)

Vermutlich hätten das BMI, der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und die Fachverbände allerdings andere Zahlen in ihre Zielvereinbarungen geschrieben, wenn sie damit gerechnet hätten, diese öffentlich machen zu müssen. Die mediale Interpretation, die auf die Veröffentlichung folgte, lief jedenfalls rasch in die einzig mögliche Richtung: Gemessen an den Erwartungen hat das deutsche Olympiateam sein intern formuliertes Medaillenziel in London deutlich verfehlt.

Wenn man die Vorgaben an die einzelnen Verbände zusammenzählt, sollten deutsche Athleten in London nicht nur 86 Medaillen gewinnen, sondern darunter auch 28 goldene. So haben es die deutschen Leistungssport-Planer im Herbst 2008 jedenfalls formuliert. Tatsächlich fällt die Ausbeute geringer aus: Nach 253 der 302 Entscheidungen kam das deutsche Team auf 42 Medaillen (10 Gold, 18 Silber, 14 Bronze).

Wichtig ist nun aber zu erwähnen: Die Diskrepanz sagt wenig über die Leistungsstärke der deutschen Sportler aus. Sehr viel sagt sie hingegen über die Zielvereinbarungen aus, die das wichtigste Steuerungselement des deutschen Sports darstellen: Wie viel sind diese wert, wenn sie der Realität so erkennbar nicht standhalten?

Gegen die Veröffentlichung der Zielvereinbarungen hatte sich das BMI bis zuletzt gewehrt. Zwei Journalisten der WAZ-Gruppe hatten vor dem Berliner Verwaltungsgericht vergangene Woche erfolgreich auf die Herausgabe geklagt mit dem Argument, dass der Staat Rechenschaft über die Verwendung seiner Steuergelder ablegen müsse. Dennoch versuchte das Ministerium weiter, die Veröffentlichung zu verhindern.

Naturgemäß ehrgeizige Ziele

Am Donnerstag hatte das Gericht dann ein Zwangsgeld in Höhe von 10 000 Euro angedroht, falls das BMI der Verpflichtung bis Freitagnachmittag nicht nachkomme. Nach Angaben der WAZ hat das BMI erst wenige Minuten vor dem Ablauf der Frist nachgegeben. In einem Statement des DOSB-Präsidenten Thomas Bach hieß es nun hingegen, kurz vor Abschluss der Sommerspiele sehe man "keine Notwendigkeit mehr, die zwischen den Sportfachverbänden und dem DOSB vereinbarten Medaillenziele vertraulich zu behandeln. Wir hätten sie im Rahmen der von uns seit langem angekündigten umfassenden Analyse der Ergebnisse von London ohnehin öffentlich gemacht".

Die Zielvereinbarungen über angestrebte Medaillengewinne (sowie viele andere Details der Verbandsarbeit) werden alle vier Jahre mit den Sportverbänden ausgehandelt. Sie sind Grundlage für die Vergabe von Fördergeldern, die von Seiten des Bundes mehr als 130 Millionen Euro jährlich betragen. Aus den nun veröffentlichten Zahlen lässt sich ablesen, dass fast alle Zielvereinbarungen zu optimistisch formuliert sind.

So wurde unter anderem auf eine Goldmedaille im Handball spekuliert, die Schwimmer sollten acht Medaillen holen. Tatsächlich qualifizierte sich dann kein deutsches Handball-Team für London, die Schwimmer holten am Freitag ihre erste Medaille im Freiwasserschwimmen. Bisher haben nur der Kanu-Verband mit neun Medaillen, davon dreimal Gold, und der Tischtennis-Verband mit zweimal Bronze die Vorgaben erreicht.

Eine Bilanz, wie sie in den Zielvereinbarungen niedergeschrieben wurde, hat ein deutsches Olympiateam überhaupt nur einmal seit der Wiedervereinigung erreicht: 1992. In Barcelona holte die Mannschaft, die noch stark vom Sportsystem der DDR geprägt war, 82 Medaillen. In der offiziellen Zielstellung des DOSB für London war von einer so hohen Ausbeute auch nie die Rede gewesen: DOSB-Generaldirektor Michael Vesper hatte davon gesprochen, das Ergebnis von Peking wiederholen zu wollen. Mit 16 Gold-, 10 Silber- und 15 Bronzemedaillen war die deutsche Mannschaft vor vier Jahren auf Platz fünf der Nationenwertung gelandet.

Nun wehrt sich Vesper dagegen, die Zielvorgaben als "konkrete Medaillenplanwirtschaft zu interpretieren". Das System der Zielvereinbarung habe das "alte System von Belohnung und Bestrafung abgelöst und ermöglicht es den Verbänden, den vierjährigen Vorbereitungsprozess auf die Olympischen Spiele gemeinsam mit dem DOSB zielgerichtet anzugehen und in Potenziale zu investieren". DOSB-Leistungssportchef Bernhard Schwank verweist darauf, dass man sich im Spitzensport naturgemäß ehrgeizige Ziele setze. Dies geschehe im Bewusstsein, nie alle Ziele zu erreichen.

Mit Material von sid und dpa.

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