KletternEin Ausruf ist Programm

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Teamarbeit: Klettern bedeutet auch, Kooperation und Verantwortung zu erlernen.
Teamarbeit: Klettern bedeutet auch, Kooperation und Verantwortung zu erlernen. (Foto: Jasper Müller/oh)
  • Die inklusive Klettergruppe "Ich will da rauf!" in München-Thalkirchen fördert seit 2008 die soziale Teilhabe von Kindern und Erwachsenen mit und ohne Behinderung.
  • Der Verein bietet 14 aktive Gruppen mit kleiner Teilnehmerzahl für Kinder, Erwachsene und Familien an. Über 85 Interessenten stehen auf der Warteliste.
  • Das Angebot ist für alle finanziell zugänglich, was zu einem strukturellen Defizit führt. Der Verein ist auf Spenden und Fördermittel angewiesen.
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Die inklusive Klettergruppe „Ich will da rauf!“ in München-Thalkirchen fördert soziale Teilhabe und Selbstbewusstsein von Kindern und Erwachsenen mit und ohne Behinderung. Mit kleinen Gruppen und vielfältigen Angeboten wird Inklusion aktiv gelebt.

Von Nadine Regel

Vier Kinder hängen in Absprunghöhe an der Boulderwand, eines hockt am Boden und beobachtet die anderen konzentriert. Kaum zuckt eines der Kinder auch nur mit den Zehenspitzen, um auf die Matte zu treten und sich das letzte Stück „Käse“ – in diesem Fall eine Expressschlinge – zu schnappen, springt das Kind am Boden auf. Es spielt die Katze, die die Mäuse fangen soll. Die Kinder an der Wand flüstern, schmieden Pläne, stimmen sich ab. Sie lernen, dass sie nur gemeinsam weiterkommen – dass es Kooperation benötigt, kein Gegeneinander.

Die Geschichte der inklusiven Klettergruppe im Kletterzentrum München-Thalkirchen beginnt mit einem starken Satz, der 2008 auch Namensgeber des Vereins wurde: „Ich will da rauf!“. Linda, damals 15 Jahre alt und Gründungsmitglied, war nach einer Routineoperation plötzlich mehrfach behindert. Sie begann, das Klettern als Therapie zu entdecken – und fand darin nicht nur körperliche Erfüllung, sondern vor allem soziale Teilhabe. Denn sie wollte trotz ihrer veränderten Lebenssituation aktiv bleiben – gemeinsam mit ihren Freundinnen und Freunden ohne Behinderung. „Sie stand damals vor der Wand und sagte: ‚Ich will da rauf!‘“, erzählt Nadja Artweger, 38, die im Verein für die Gruppenzusammenstellung zuständig ist. Die Gründung von „Ich will da rauf!“ fiel in eine Zeit, in der das Thema Inklusion in der Öffentlichkeit noch kaum präsent war.

Heute unterstützt das Folgeprojekt „Seilschafft Inklusion“ andere Organisationen beim Aufbau inklusiver Klettergruppen, die Menschen mit und ohne Behinderung das gemeinsame Klettern ermöglichen. Dazu gehört auch, sich in die Lebensrealitäten des anderen zu versetzen und zum Beispiel mit Augenbinde oder Gehörschutz zu klettern. Das würden auch die Kinder in München gut annehmen, sagt Nadja Artweger.

„Wir kommunizieren in der Regel nicht, ob jemand eine Beeinträchtigung hat.“

Die Nachfrage ist groß: Mehr als 85 Kinder und Erwachsene stehen auf der Warteliste – etwa so viele, wie aktuell in den 14 aktiven Gruppen klettern. Sechs Gruppen sind für Kinder, eine für Familien, die übrigen für Erwachsene. Dabei ist die Zusammensetzung bewusst vielfältig: möglichst gleich viele Mädchen und Jungen, Menschen mit und ohne Behinderung in etwa gleicher Zahl. Die Gruppengrößen bleiben klein – maximal sechs Kinder oder acht Erwachsene pro Gruppe. Die Trainings finden alle zwei Wochen statt.

Auch in der Zusammenarbeit mit den etwa 25 Trainerinnen und Trainern verfolgt der Verein einen besonderen Ansatz: „Wir kommunizieren in der Regel nicht, ob jemand eine Beeinträchtigung hat“, sagt Mira Herzberger, 29, Trainerin und eine der Projektkoordinatorinnen. Nur wenn es aus Sicherheitsgründen notwendig ist – etwa bei Epilepsie oder wenn eine Person auf den Rollstuhl angewiesen ist –, gibt es vorab Informationen. „Wir wollen unvoreingenommen arbeiten und gleichzeitig die Persönlichkeitsrechte der Teilnehmenden schützen“, sagt Herzberger. Die Philosophie dahinter: Die Strukturen werden an die Menschen angepasst – nicht umgekehrt.

Dieser offene, wertschätzende Rahmen fördert auch die Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit der Kinder. Denn Klettern macht sichtbar und spürbar, wo die eigenen Grenzen liegen, körperlich wie emotional. Gerade für Menschen mit Behinderung ist das oft eine neue Erfahrung. Viele sind es gewohnt, dass Entscheidungen für sie getroffen werden – durch Therapiepläne, medizinische Vorgaben oder Einschränkungen im öffentlichen Raum. In der Klettergruppe dagegen entscheiden sie selbst: ob sie klettern, wie weit sie gehen möchten, wann sie eine Pause benötigen. „Es gibt kein therapeutisches Ziel wie mehr Beweglichkeit in der linken Hand“, sagt Mira Herzberger. „Wenn sich etwas verbessert, ist das schön – wenn nicht, ist das genauso in Ordnung.“

Viele Eltern entscheiden sich bewusst für ein inklusives, achtsames Umfeld ohne Leistungsdruck

Der Verein bietet auch Selbstbehauptungstrainings an, bei denen Kinder lernen, ihre Grenzen im Umgang mit anderen zu spüren und auszudrücken. Davon profitieren auch Kinder ohne Behinderung. Viele Eltern entscheiden sich bewusst für ein inklusives, achtsames Umfeld ohne Leistungsdruck – oder melden ihre Kinder aus finanziellen Gründen an. Denn das Angebot ist für alle zugänglich: Die Teilnahmegebühren sind niedrig und einheitlich – unabhängig vom Einkommen. Diese Haltung führt jedoch zu einem strukturellen Defizit: „Die Beiträge decken die tatsächlichen Kosten nicht“, sagt Stefanie Mosen, 39, verantwortlich für die Finanzen des Vereins und heute als zweite Trainerin mit in der Kletterhalle. Sie seien stark auf Spenden und Fördermittel angewiesen – was eine große Herausforderung darstelle.

Das Spiel im Kinderboulderbereich ist mittlerweile beendet, unentschieden für Mäuse und Katze. Die Kinder schnappen ihre Klettergurte und gehen an die höheren Wände. Bevor es losgeht, kommt noch Faultier Paul ins Spiel – ein flauschiges Kuscheltier, das die Kinder vom Vereinsvorstand geschenkt bekommen haben und das zur Gruppe dazugehört. Ein Kind hat sogar ein Gedicht über Paul geschrieben, über sein ganz besonderes Faultierleben.

Ein Junge lässt sich Paul mit einem braunen Seil auf den Rücken binden und steigt im Toprope, bei dem das Seil oben im Umlenker hängt, in die Route ein. Sein Ziel heute: an seiner Fußarbeit zu feilen, kleinere Tritte zu nutzen. Er bemüht sich sichtlich, setzt sich immer wieder ins Seil – aber gibt nicht auf. Seine Seilpartnerin unterstützt ihn von unten, auch wenn sie jedes Mal einen halben Meter leicht nach oben springt, wenn er ins Seil fällt. Ein Mädchen versucht sich im Vorstieg an einer anspruchsvollen Route, klettert im oberen Drittel sogar in ein Dach hinein, das sie auf den letzten Metern verlässt. Der Sichtkontakt zu ihrer Sicherungspartnerin bricht kurzzeitig ab. Mira Herzberger unterstützt die beiden, von unten schauen mittlerweile die anderen Kinder zu und feuern sie an.

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt bei „Ich will da rauf“, aber er zeigt eindrücklich: Jede und jeder in der Gruppe darf an individuellen Zielen arbeiten – oder einfach nur Spaß haben und alle Zielvorgaben einmal außer Acht lassen.

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