Leichtathletik-EM:Ein sehr schneller 17-Jähriger

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Jakob Ingebrigtsen feiert seinen zweiten EM-Titel in Berlin. (Foto: AP)
  • Bei der Leichtathletik-EM in Berlin dominiert der 17-jährige Jakob Ingebrigtsen die 1500 und 5000 Meter.
  • Dina Asher-Smith wird Doppel-Europameisterin über 100 und 200 Meter und hat bereits ein abgeschlossenes Geschichtsstudium am King's College in London.
  • Ekaterini Stefanidi wird dagegen Stabhochsprung-Europameisterin trotz Höhenangst.

Von Joachim Mölter, Berlin

Europameisterschaften in der Leichtathletik gibt es seit 1934, in Berlin wurden sie zum 24. Mal ausgetragen. Da ist viel schon mal da gewesen, aber es gibt immer noch Neues. Ein Streifzug durch außergewöhnliche und bemerkenswerte Leistungen dieser Titelkämpfe.

Familienduell

Im 1500-Meter-Finale der Männer standen am Freitagabend drei Brüder am Start, die Norweger Henrik, Filip und Jakob Ingebrigtsen. Henrik, 27, hatte schon 2012 in Helsinki über diese Distanz gewonnen, Filip, 25, siegte vor zwei Jahren, nun gewann Jakob - er wird im September erst 18. Einen jüngeren Europameister hat es noch nie gegeben. Vor Kurzem verbesserte er sich auf 3:31,18 Minuten, in Berlin ließ er seine Brüder in 3:38,10 hinter sich. "Er ist so routiniert gelaufen, als wäre er zehn Jahre älter als alle anderen", sagte Henrik, der Vierter geworden war. Filip, der am Ende als Zwölfter austrudelte, glaubte: "Es ist der erste von vielen Erfolgen, die noch kommen werden für Jakob. Diese EM war vielleicht unsere letzte Chance, ihn noch mal einzufangen." Der nächste Erfolg kam tatsächlich bereits einen Tag später. Da gewann Jakob auch über 5000 Meter; im Endspurt gelang es Henrik nicht mehr, ihn einzufangen, Filip hatte es gar nicht erst versucht - er war nicht angetreten. Jakobs Zeit, 13:17,06 Minuten, sind übrigens ein neuer Junioren-Europarekord.

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Manchen kam die Leichtigkeit, mit der die Familie in Berlin die Mittelstrecken dominierte, ein wenig zu leicht vor. Als Filip im Halbfinale über 1500 Meter stürzte und am Ende trotzdem das Feld düpierte, sagte der Deutsche Timo Benitz: "Das sehe ich als Leistungssportler, der auch jeden Tag ein-, zweimal trainiert, kritisch." Tags darauf ruderte Benitz zurück, er habe damit keinen Dopingverdacht vorbringen wollen. Der Verdacht ist allerdings nicht neu: Die russische Hacker-Gruppe "Fancy Bears" enthüllte vor einem Jahr eine Liste mit Athleten, die laut Weltverband IAAF ein paar verdächtig hohe Blutwerte hatten. Einer war Henrik Ingebrigsten. Die IAAF teilte daraufhin mit, man könne aus einzelnen Werten keinen Dopingverstoß ableiten. Vater Gjert Arne, der seine Söhne trainiert, hat stets deren Sauberkeit beteuert.

Die Ingebrigtsens stellten in Berlin selbst die Borlée-Brüder aus Belgien in den Schatten, die ebenfalls zu dritt angereist waren und Gold in der 4x400-Meter-Staffel gewannen (ein gewisser Jonathan Sacoor komplettierte das Quartett). Die Zwillinge Kevin und Jonathan, beide 30, holten im Einzelrennen über 400 Meter hinter dem Briten Matthew Hudson-Smith zudem Silber und Bronze. Nur ihr Jüngster, der 25 Jahre alte Dylan, war im Halbfinale hängen geblieben. Filip Ingebrigtsen war sich auch deshalb der Bedeutung der 1500 Meter sehr bewusst: "Ich war so stolz, dass ich drei Ingebrigtsens an der Startlinie eines Finales gesehen habe. Vielleicht gelingt das in 50 Jahren wieder einer anderen Familie." Der jüngste der sieben Ingebrigtsen-Kinder ist übrigens fünf Jahre alt.

Höhenangst

Auch immer wieder schön: die Geschichte der griechischen Stabhochspringerin Ekaterini Stefanidi, Olympiasiegerin, Weltmeisterin und nun zum zweiten Mal Europameisterin mit 4,85 Metern. Die 28-Jährige leidet unter Höhenangst, wie sie mal erzählt hat, allerdings hat sie diese im Griff, wenn sie sich an einem Stab festhalten kann, während sie sich vier, fünf Meter hoch in die Luft schwingt und dort schwebt. "Dann habe ich die volle Kontrolle über das, was passiert", sagt sie, "außerdem passiert alles so schnell."

Dauersieger

Vor dieser EM gab es sechs Leichtathleten, die in ihrer Disziplin vier EM-Titel in Serie geholt haben: die Speerwerfer Janis Lusis (Sowjetunion, 1962-1971) und Steve Backley, Hürdensprinter Colin Jackson (beide Großbritannien, je 1990-2002), Kugelstoßerin Nadeschda Tschischowa (Sowjetunion, 1966-1974), die deutsche Weitspringerin Heike Drechsler (1986-1998) sowie die Diskuswerferin Sandra Perkovic (Kroatien, 2010-2016). Die Chance, seine Disziplin als Erster fünfmal nacheinander zu gewinnen, hat der französische Hindernisläufer Mahiedine Mekhissi-Benabbad vergeben - allerdings nicht erst in Berlin, wo er in 8:31,66 Minuten zum vierten Mal seit 2010 gewann, sondern schon 2014 in Zürich. Da lag der 33-Jährige im Finale so weit vorne, dass er sich vor dem letzten Hindernis das Trikot vom Leib riss und mit nacktem Oberkörper durchs Ziel lief. Weil seine Startnummer nicht mehr ordnungsgemäß zu sehen war, wurde er disqualifiziert. Mekhissi-Benabbad war so sauer, dass er drei Tage später zum 1500-Meter-Titel stürmte (und Titelverteidiger Henrik Ingebrigsten auf Platz zwei verdrängte). "Ich habe etwas Historisches geschafft", sagte er nun in Berlin: "Meinen fünften EM-Titel." Am Samstag zog dann die Diskuswerferin Perkovic nach, die ihre fünfte Goldmedaille sogar in derselben Disziplin sammelte. Sie ist erst 28, die Serie kann also noch weitergehen.

Weiße Fahne

Vor den Titelkämpfen war viel über Russland geredet worden, das ja nicht mitmachen darf: Der dortige Verband ist gesperrt wegen seines jahrelangen Dopingsystems. Nur einzelnen Athleten war die Teilnahme gestattet, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllt hatten; sie firmierten allerdings unter dem Kürzel ANA - Authorised Neutral Athletes, neutrale Athleten. Bei ihnen durfte nichts an Russland erinnern, keine Farbe, keine Fahne, kein Emblem, kein Nagellack, keine Tätowierung. Nichts. Selbst das Färben oder Rasieren der Haare war reglementiert. Die rund 30 neutralen Russen verhielten sich auch weitgehend unauffällig, anstelle ihrer Nationalfarben (Weiß, Blau, Rot) trugen sie Dunkelgrün und Schwarz; der Zehnkämpfer Ilja Schkurenjow, Zweiter hinter dem Ulmer Arthur Abele, ließ sich zur besseren Tarnung sogar Rastalocken stehen. Dem Publikum fielen die neutralen Athleten nur einmal richtig auf, bei der Siegerehrung für die Hochspringerin Maria Lasitskene. Für die Zwei-Meter-Springerin wurde die Hymne des europäischen Verbandes gespielt und auch dessen weiße Fahne gehisst.

Vielvölkergemeinschaft

Der in der europäischen Politik derzeit so stark ausgeprägte Nationalismus spielt bei den Leichtathleten eine eher untergeordnete Rolle. Zum Beispiel in der Türkei. Das Land hatte bis zum Sonntag drei Medaillen gewonnen, eine goldene über 200 Meter durch Ramil Gulijew, der ursprünglich aus Aserbaidschan stammt, eine silberne durch den 400-Meter-Hürdenläufer Yasmani Copello, der kubanischer Herkunft ist, sowie eine bronzene über 100 Meter durch Jak Ali Harvey, der in Jamaika zur Welt kam. Dazu schickte das Land über 5000 und 10 000 Meter einige Titelverteidiger an den Start, die allesamt aus Kenia kommen: Kaan Kigen Özbilen und Polat Kemboi Arikan sowie bei den Frauen Yasemin Can. Mit im Team war auch die in Südafrika geborene Weitspringerin Karin Melis Mey. Eine schöne Vielvölkergemeinschaft ist das, die sich da in Berlin präsentierte. Auch wenn der Verband manche Athleten vor einigen Jahren recht hastig eingebürgert hatte.

Geschichtsbewusst

Die schnellste Frau Großbritanniens fuhr als erfolgreichste Teilnehmerin nach Hause. Dina Asher-Smith, erst 22 Jahre alt und schon mit abgeschlossenem Geschichtsstudium am King's College zu London, einer der renommiertesten Hochschulen Europas, schrieb sich in Berlin selbst ein kleines bisschen in die Leichtathletik-Geschichtsbücher ein: Sie holte die Titel über 100 und 200 Meter, jeweils mit neuen Landesrekorden von 10,85 und 21,89 Sekunden; zudem gewann sie am Sonntagabend noch mit der 4x100-Meter-Staffel ihres Landes Gold. Drei Medaillen bei denselben Europameisterschaften kommen nicht alle Tage vor. Zuletzt gelang das dem Franzosen Christoph Lemaitre, der 2010 über 100, 200 und 4x100 Meter erfolgreich war.

Doppelbegabung

Seltenheitswert hat auch das Double-Double der starken Polen: Innerhalb von wenigen Minuten sorgten am ersten Wettkampftag erst die Hammerwerfer Wojciech Nowicki und Pawel Fajdek, dann die Kugelstoßer Michal Haratyk und Konrad Buckowiecki für Doppelerfolge. Tags darauf holte die Kugelstoßerin Paulina Guba den dritten Titel für ihr Land. Dass die Polen nicht nur werfen, sondern auch rennen können, bewiesen sie am Samstag: Da stockten sie ihr Titelkonto durch Erfolge über 800 Meter der Männer sowie 400 und 4x400 Meter der Frauen auf. Am Sonntag siegte auch noch Hammerwerferin Anita Wlodarczyk. Vor Jahren hatten die aus Polen stammenden Eltern des Hochspringers Mateusz Przybylko mal angefragt wegen eines Startrechts. Aber an Springern sind sie in Polen offensichtlich nicht so sehr interessiert.

Doppelleben

Die Marathons läuteten am Sonntag den letzten Wettkampftag in Berlin ein, bei den Frauen gewann die Weißrussin Wolha Masuronak - trotz blutiger Nase - in 2:26:22 Stunden, bei den Männern der Belgier Koen Naert in Meisterschaftrekord: 2:09:51. Koen wer? Der 28-Jährige hatte bei den großen Stadtmarathons schon oft im Schatten der starken Afrikaner überzeugt, als Siebter vor drei Jahren in Berlin etwa. "Heute hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass es für ganz vorne reichen könnte", sagte Naert, der bis 2016 ein Doppelleben führte: Er arbeitete als Krankenpfleger in einem Militärkrankenhaus, wo er schwerverwundete Soldaten versorgte. Es hat Naert vermutlich nicht geschadet, früh zu lernen, dass es wichtigere Dinge gibt als den Sport.

© SZ vom 13.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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