Süddeutsche Zeitung

6:2 gegen Stuttgart:Die neue Bescheidenheit des HSV

  • Beim 6:2 im Zweitliga-Spitzenduell profitiert der HSV davon, dass den Stuttgartern die Balance zwischen Abwehr und Angriff fehlt.
  • Schon am Dienstag hat der VfB im DFB-Pokal die Chance zur Revanche.
  • Hier geht es zur Zweitliga-Tabelle.

Von Jörg Marwedel, Hamburg

Wenn man vom neuen HSV redet, muss man wohl auch von der neuen Hymne im Volksparkstadion sprechen. Statt des arg überholten Liedes "Hamburg, meine Perle" von Lotto King Karl, indem der HSV unter anderem dem FC Bayern noch immer die Lederhosen auszieht, obwohl es gegen den Rekordmeister zuletzt oft fast zweistellige Niederlagen setzte und man den alten Europacup-Zeiten hinterher trauert, heißt es im Werk der Punkrockgruppe "Abschlach" nun: "Mein Hamburg lieb ich sehr, sind die Zeiten auch oft schwer." Da klingt ungewohnte Demut durch, was angesichts der derzeitigen Zweitklassigkeit des ehemaligen Dinos angemessen ist.

Die neue Bescheidenheit tut dem Klub offenbar außerordentlich gut. Am frühen Samstagnachmittag hat der Tabellenführer HSV mit 6:2 (3:1) in einem aufregenden Spitzenspiel gegen den VfB Stuttgart erneut bewiesen, dass die Zeiten wieder besser werden könnten - einschließlich der Rückkehr in Liga eins.

Es passiert nicht oft, dass der gestrenge Trainer Dieter Hecking so zufrieden ist, dass er den eigenen Hinweis auf kleine Fehler als Suche nach den "Haaren in der Suppe" tituliert und davon spricht, man habe die Tore "herausragend herausgespielt" und auf die beiden Stuttgarter Gegentore im "Spiel der besten Mannschaften der Liga" stets die richtigen Antworten gefunden.

Stuttgart fehlt die Balance zwischen Abwehr und Angriff

Allerdings kam den Hamburgern auch eine frühe Führung zugute, als Schiedsrichter Deniz Aytekin ihnen einen Elfmeter zusprach, der vielleicht nur von 50 Prozent seiner Kollegen gepfiffen worden wäre: Maxime Awoudja hatte Jeremy Dudziak nur minimal berührt, der HSV-Mittelfeldspieler fiel, und Sonny Kittel setze den Strafstoß in der 13. Minute in die rechte Ecke - nur knapp verpasst vom hechtenden Gregor Kobel.

Und noch einmal erwies sich, dass der 21 Jahre alte Awoudja in dieser Partie nicht der optimale Ersatz für den gesperrten Routinier Holger Badstuber war. In der 24. Minute ließ er sich vom überragenden Bakery Jatta der Ball mopsen, der Gambier behielt vor dem Tor die Nerven und verwandelte zum 2:0. Das waren zwei Szenen, die unter anderem dazu führten, dass VfB-Coach Tim Walter hinterher klagte, man hätte aufgrund individueller Fehler "den HSV eingeladen, Tore zu schießen". Man konnte aber auch feststellen, dass den Stuttgartern die Balance zwischen Abwehr und Angriff fehlte. Das von Hecking schon vor dem Spiel ausgemachte "unorthodoxe Offensivspiel" des VfB ging nicht auf, weil die HSV-Defensive deutlich konzentrierter zu Werke ging als die VfB-Abwehr, der viele Missgeschicke unterliefen.

Da nützte es überhaupt nichts, dass die Gäste 61 Prozent Ballbesitz hatten. Auch als die Stuttgarter in der 32. Minute nach einem Eckball mit einem Kopfballtor von Nicolas Gonzales das 2:1 erzielten, antworteten die Hamburger vier Minuten später mit einem fantastisch herausgespielten 3:1. Wieder vollendete Kittel, nachdem Jatta Christoph Moritz eingesetzt hatte und dieser präzise auf Kittel flankte. Der weist nun schon sieben Saisontreffer auf. Und als Gonzalo Castro kurz nach der Pause einen HSV-Eckball zum 4:1 ins eigene Tor setzte, schien es gelaufen zu sein.

Bielefeld rückt auf Platz zwei vor

Arminia Bielefeld ist der erste Verfolger der Hamburger, nach dem 1:0-Erfolg bei Dynamo Dresden liegt die Arminia mit 22 Punkte zwei Zähler hinter dem HSV. Andreas Voglsammer erzielte das Siegtor (63.), durch das Bielefeld die Situation des Vorletzten aus Dresden verschärfte.

Am Dienstag kommt es zur Neuauflage - im DFB-Pokal

Stimmte aber nicht. Als Silas Wamangituka das 4:2 erzielte (63.) und kurz darauf Josha Vagnoman ein zweites Mal schlecht aussah und Philipp Förster das 4:3 schoss, dachte man an ein dramatisches Ende dieses Spiels. Doch der Video-Schiedsrichter Sören Storks griff ein und wies auf das unabsichtliche Handspiel des Zuspielers Gonzales hin. Das Tor wurde wieder aberkannt. Stattdessen konterte der frühere VfB-Profi Martin Harnik nach Flanke von Tim Leibold (73.) zum 5:2. Und als Adrian Fein in der Nachspielzeit noch das 6:2 gelang, hatten die Fans im mit 57 000 Zuschauern ausverkauften Stadion längst ein weiteres Lied entdeckt: "Oh, wie ist das schön".

Am Dienstag kommt es schon zur Neuauflage dieses Duells an gleicher Stelle, diesmal im DFB-Pokal. Eines hatte HSV-Kapitän Rick van Drongelen besondere Genugtuung bereitet. Er habe gelesen, dass Mario Gomez davon gesprochen habe, beide Spiele gegen die Hamburger zu gewinnen. "Das klappt schon mal nicht mehr", freute sich der Niederländer. Eher könnte man sich die Frage stellen, ob der VfB Stuttgart der neue HSV ist? Ein Klub, der viel Geld investiert und mehr von sich hält als er auf dem Rasen zeigt.

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SZ vom 27.10.2019/ebc
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