Süddeutsche Zeitung

Hamburger SV:Hrubeschs gefühlvolle Herzdruckmassage

Der Interimscoach belebt den HSV spürbar - heraus kommt ein 5:2 gegen Nürnberg. Das Rennen um den Aufstieg bleibt für den Klub aber kompliziert.

Von Thomas Hürner, Hamburg

Statt der für die zweite Liga neu interpretierten, etwas schrulligen Vereinshymne des Hamburger SV erklang um 20.18 Uhr ein plattdeutsches Couplet in der Version von Heidi Kabel im Volkspark. Aus den Stadionboxen dröhnte "An de Eck steiht'n Jung mit'n Tüdelband", auch bekannt unter dem Titel "En echt Hamborger Jung", was als Hommage an den Mann gedacht war, der freudestrahlend über den Rasen stapfte und Klapse auf allen Spielerhintern verteilte, die ihm so in die Quere kamen.

Nach dem Abpfiff der Partie gegen den 1. FC Nürnberg drehte sich alles um Horst Hrubesch, so viel Folklore musste sein. Als Dienstkleidung hatte sich der 70-Jährige einen schwarzen Trainingsanzug ausgesucht, doch weder das musikalische Rahmenprogramm noch sein lässiges Erscheinungsbild konnten darüber hinwegtäuschen, dass er am Montagabend in der Funktion eines Nothelfers unterwegs war. Es galt, sich um einen nahestehenden Verwandten zu kümmern, der zuletzt regungslos am Boden gelegen war. Hrubesch legte selbst Hand an und hielt den Patienten am Leben, mit einer gefühlvollen Herzdruckmassage und ein paar satten Stromstößen: 5:2! Es war ein imposanter Sieg, mit dem sich der HSV unter Interimscoach Hrubesch im Aufstiegsrennen zurückmeldete.

Eine Woche zuvor hatte sich der einstige Mittelstürmer, der zwischen 1978 und 1983 in 211 Spielen 132 Tore für den HSV erzielt hat, dreimal deutscher Meister wurde und zum Abschied den Europapokal der Landesmeister gewann, für eine letzte Mission in vorderster Reihe entschieden. Eigentlich wollte Hrubesch nur noch im Hintergrund wirken, sein im Sommer angetretener Job als Hamburger Nachwuchsdirektor war ihm Erfüllung genug. Ihn schmerzte aber der Anblick des nach Zweitliga-Maßstäben prominent besetzten Profiteams, das unter Trainer Daniel Thioune das Gewinnen verlernt hatte und den erhofften Aufstieg bereits verspielt zu haben schien.

Es war eine Entwicklung, die im direkten Kontrast zu einem bekannten Bonmot eines in Hamburg weiterhin prominenten Österreichers steht. "Für eine gute Mann­schaft macht Ver­lieren über­haupt keinen Sinn", stellte Ernst Happel einmal scharfsinnig fest, der kauzige HSV-Erfolgscoach in den 80er-Jahren.

Hrubesch war seinerzeit das emotionale Zentrum der Mannschaft, die Weisheiten seines früheren Lehrmeisters hat er also verinnerlicht. Es mache jetzt "keinen Sinn mehr Spiele zu verlieren", hatte Hrubesch vor der Partie gegen Nürnberg gesagt. Fußball kann manchmal so einfach sein.

Der HSV liegt nun drei Punkte hinter dem Relegationsplatz drei

In dieser Phase der Saison geht es nicht um die Verwissenschaftlichung des Spiels, um asymmetrische Positionswechsel oder das polyvalente Besetzen von Halbräumen. Deshalb war es das erklärte Ansinnen von Hrubesch, der zuletzt so schwerfälligen und verunsicherten Mannschaft eine Injektion an Spielfreude und Lockerheit zu verabreichen. Und was sollte man sagen? Das Vakzin wirkte.

"Er hat uns extrem stark geredet", verriet Verteidiger Toni Leistner, der mit seinen 30 Jahren am Montag zu den erfahrensten Akteuren des HSV zählte. Altmeister Hrubesch wählte am Montag ein klassisches 4-4-2-System, in das er außer zwei, drei etablierten Säulen fast alles an Jugendlichkeit packte, die der Kader so hergibt. Die Rolle des Mittelfeldorganisators wurde vom häufig desolaten Klaus Gjasula, 31, auf die schmalen Schultern des 19-jährigen Amadou Onana übertragen. Und an der Seite des Torjägers Simon Terodde durfte zum Beispiel der 21-jährige Robin Meißner sein Startelfdebüt geben, den Hrubesch bestens aus der täglichen Arbeit am HSV-Campus kennt. Hinterher berichtete der Trainer über den Dialog, den die beiden vor Spielbeginn geführt hatten. "Ich habe ihm gesagt: Er kann nichts verkehrt machen, er kann eigentlich nur gewinnen."

Vor seiner Rückkehr zum HSV war Hrubesch lange Jahre der Chefentwickler beim Deutschen-Fußball-Bund (DFB), als einstiger Trainer der U17-Nationalmannschaft bis hin zur Olympiaauswahl trifft er an nahezu allen Bundesliga-Standorten auf ehemalige Schüler. In Hamburg etwa auf Spielmacher Sonny Kittel und Raumdeuter David Kinsombi, die beiden wohl begabtesten Fußballer im Gefüge, deren Formkurven bis vor kurzem noch beängstigend nach unten gezeigt hatten. Gegen Nürnberg waren sie beängstigend gut.

"Fußball macht nur dann Spaß, wenn du Spaß dran hast", lautete die Erklärung von Hrubesch. Und wer wollte da schon Widerrede leisten? Ab Mitte der ersten Halbzeit spielte der HSV so schwungvoll auf, als habe man sich unter der Woche eines bleischweren Ballasts entledigt. Auf einmal wirkte alles ganz leicht, wie wachgeküsst. Auf ein frühes Nürnberger Eigentor folgten Treffer von Angreifer Bakery Jatta, Kittel und ein Doppelpack von Stürmer Terodde, der sich wie Hrubesch auf einer letzten Mission im Norden befindet, weil er ab dem Sommer mit dem FC Schalke das Projekt Wiederaufstieg in Angriff nehmen wird.

Zwei Spieltage vor dem Saisonende liegt der HSV drei Punkte hinter dem Relegationsplatz drei, es wird also trotz des Sieges ein kleines Wunder für eine Rückkehr in die Erstklassigkeit benötigt. Am Montag interessierte sich in Hamburg aber niemand für die Macht des Faktischen. "Wenn der liebe Gott mit uns ist", sagte Hrubesch, "dann gehen wir vielleicht in die Relegation." Die alleinige Präsenz des einstigen Kopfballungeheuers schien der zweiten Liga jedenfalls einen nahezu biblischen Torregen zu bescheren: 46 Treffer fielen am vergangenen Spieltag - so viele wie nie zuvor.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5290997
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/ebc/bkl
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.