Schwule Fußballer schaffen es in die beste Sendezeit. Im März 2011 sagte eine fiktive Figur in der Krimireihe Tatort: "Wissen Sie, die halbe Nationalmannschaft ist angeblich schwul, einschließlich Trainerstab. Das ist doch schon eine Art Volkssport, das zu verbreiten." Fünf Tage später dokumentierte Bild die Reaktion von Oliver Bierhoff, dem Manager des deutschen Nationalteams: "Ich finde es schade und ärgerlich, dass die Prominenz der Nationalelf missbraucht wird, um irgendein Thema zu entwickeln oder einen Scherz zu machen. Das sehe ich immer auch als einen Angriff auf meine Familie - die Familie der Nationalelf." Homosexualität als Angriff auf die Familie? Bierhoff kleidete Ressentiments in scheinbar harmlose Worte. Und kaum jemand nahm daran Anstoß.
Ganz anders in den vergangenen Tagen. Medien, Fans, Funktionäre, sogar Politiker beteiligen sich an einer weiteren Runde einer Art Castingshow: Deutschland sucht den schwulen Superkicker. Sie spekulieren, mutmaßen, prognostizieren. Auslöser war diesmal ein Interview in Fluter, dem Jugendmagazin der Bundeszentrale für politische Bildung. Darin schildert ein schwuler Fußballprofi - anonym - sein Versteckspiel in der Bundesliga. Ja, er nehme öffentliche Anlässe in weiblicher Begleitung wahr. Ja, er kenne andere schwule Bundesligakicker. Ja, er hoffe mit seinen Aussagen eine Lawine der Outings loszutreten. Der Urheber des Interviews, der 25 Jahre alte Journalist Adrian Bechtold, hat sich zurückgezogen, zu groß sei laut der Bundeszentrale der Andrang der Medien.
Im Durchschnitt gibt es einen solchen Andrang zweimal im Jahr. Im Dezember 2006 hatte das inzwischen eingestellte Fußballmagazin Rund die Debatte begonnen, Titel der Ausgabe: "Einer von elf Profis ist schwul." Die Reaktionen auf das Fluter-Interview zeigen nun, dass sich die Diskussionskultur in den sechs Jahren seither kaum verändert hat. Bild illustrierte auf ihrer Internetseite die vermeintlich spektakulärsten Aussagen des schwulen Spielers mit einem Schattenriss.
Blogs, Radiosender, Zeitungen sammelten "Meinungen" pro und contra Coming out. Pro: Kanzlerin Angela Merkel. Contra: Corny Littmann, einst Präsident des FC St. Pauli und bekennend homosexuell. Pro (mit Einschränkungen): Bayern-Präsident Uli Hoeneß. Und so weiter. Wieder einmal dominiert die geheimnisumwitterte Fahndung nach schwulen Fußballern die Debatte. Und nicht etwa die Beschreibung einer Gesellschaft und eines Fußball-Milieus, die so ein Coming Out unmöglich zu machen scheinen. Bis heute.
In einer repräsentativen Langzeitstudie der Uni Bielefeld haben 25,3 Prozent der Befragten 2011 folgender Aussage zugestimmt: "Es ist ekelhaft, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen." Viele Medien stützen diese Vorurteile, weil sie Homosexualität sprachlich und visuell wie Skandale aufbereiten: hysterisch, verrucht, exotisch.
Anlässe gäbe es auch im Sport genug, das gefühlt Unnormale als normal zu beschreiben: Im Oktober 2009 wollte der DFB ein Länderspiel gegen Finnland nutzen, um für den Kampf gegen Homophobie zu werben, mit einer Broschüre und einer Pressekonferenz (in der Spielübertragung wurde das vor einem Millionenpublikum mit keinem Wort erwähnt). 2010 fanden in Köln die Gay Games mit 10 000 Schwulen und Lesben statt. Die lesbische Bogenschützin Karen Hultzer aus Südafrika eröffnete in London das erste Pride House der Sommerspiele, einen Treffpunkt für homosexuelle Athleten und Fans. In Deutschland werben 19 schwul-lesbische Fußball-Fanklubs und mehr als fünfzig schwul-lesbische Sportvereine um Akzeptanz. Ultras in Bremen, Mainz oder Stuttgart haben beachtliche Konzepte gegen Homophobie erarbeitet. Fanprojekte bieten Workshops an, Stiftungen verteilen Broschüren. Sie alle könnten Klischees aufweichen und ein Gegengewicht zur Outing-Fahndung darstellen. Offen, nicht anonym - gefragt werden sie selten.
Stattdessen die Schmuddelecke: Anfang 2010 wurde ein Streit zwischen dem DFB-Schiedsrichterfunktionär Manfred Amerell und seinem Schüler Michael Kempter öffentlich. Es ging um Machtmissbrauch und veraltete Strukturen im Verband. Die Sexualität dieser konfliktreichen Beziehung war nachrangig - trotzdem entfachten Medien wieder eine Generaldebatte über schwule Fußballer, interpretierten Frisur und Gesichtszüge Kempters als Indizien für Homosexualität. Aktivisten gegen Homophobie veröffentlichten daraufhin einen Offenen Brief, darin stand: "Es fällt auf, dass immer dann über Homosexualität im Sport bzw. im Fußball berichtet wird, wenn es sich gut verkaufen lässt: Sex sells. Homosexualität wird dabei auf Sexualität reduziert, was eine sehr begrenzte Darstellung unserer Lebensweise ist. Wir wünschen uns, mit all unserer Vielfalt wahrgenommen zu werden." Die Resonanz? Gleich null.
Wochen später veranstaltete Frank Plasberg eine ARD-Diskussion zum Thema. Nachdem mehrere raubeinige Trainer eine Einladung abgelehnt hatten, musste in Hart aber fair der Schauspieler Claude- Oliver Rudolph den schwulenskeptischen Macho geben. Vier Monate später, im Juli 2010, beschrieb der Spiegel, wie Michael Becker, Manager des einstigen Nationalmannschaftskapitäns Michael Ballack, in Leverkusen vor Reportern über eine "Schwulencombo" im Nationalteam gesprochen hatte.
Bild fragte: "Gibt es eine homosexuelle Verschwörung um die Mannschaft von Joachim Löw?" Mit dieser Art von Berichterstattung wird ein Tabu gepflegt, von dem niemand seriös behaupten kann, ob es dieses Tabu überhaupt noch gibt. Die Medien sind damit Teil des Problems: Die Spirale der Spekulationen dürfte auf Spieler, die tatsächlich über ein Coming Out nachdenken, wie eine Drohung wirken. Warum sollten sie sich diesem Stammtischniveau öffentlich aussetzen?
Medien, Gesellschaft, Fußball: Überall dominieren die Klischees. 2022 soll die WM in Katar stattfinden, wo gleichgeschlechtlicher Sex mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft wird. Sepp Blatter, Präsident des Weltverbandes Fifa, riet Homosexuellen im Dezember 2010 scherzhaft, sie sollten in Katar "jegliche sexuelle Aktivität unterlassen". 2011 kommentierte der Dortmunder Torwart Roman Weidenfeller seine Nichtberücksichtigung für das Nationalteam mit den Worten: "Vielleicht sollte ich mir einfach die Haare schneiden oder etwas zierlicher werden." Trainer Löw hatte den neun Jahre jüngeren Torhüter Ron-Robert Zieler aus Hannover nominiert.
Blatter, Weidenfeller, Bierhoff - sie alle haben die Wahrnehmung der Ungleichwertigkeit von Homosexuellen gegenüber Heterosexuellen gestärkt. Hätten sie auf Menschen mit dunkler Hautfarbe oder jüdischem Glauben angespielt: der gesellschaftliche Aufschrei wäre wesentlich lauter gewesen. Profispiele wurden schon mehrfach wegen Rassismus auf den Rängen unterbrochen. Wegen Schwulenfeindlichkeit noch nie.
Ronny Blaschke, 31, ist freier Journalist in Berlin. Er ist Autor des Buches: "Versteckspieler", erschienen 2008 im Verlag Die Werkstatt.