Eine Pressekonferenz im Kieler Holstein-Stadion hat immer ein bisschen was von einem Tribunal. Vorn auf der Anklagebank sitzt der Kieler Trainer Marcel Rapp, ein bescheidener Typ, der locker zu den 100 friedfertigsten Deutschen zählen dürfte. Doch von den Herrschaften im Plenum hat er wenig Gnade zu erwarten. Hierbei handelt es sich um bissige Lokalreporter, die sich keinesfalls den Vorwurf gefallen lassen müssen, wachsweiche Hofberichterstattung zu betreiben. Sie stellen die gesamte Saison hinweg entsprechende Fragen: War’s das jetzt mit der Erstklassigkeit, Rappo? Reicht die Qualität für diese Liga einfach nicht, Rappo? Marcel Rapp, 45, hat sich bislang nie aus der Reserve locken lassen. Er arbeitet das Fragegewitter mit beeindruckender Zugewandtheit ab.
Es ist löblich, wie gnadenlos die Reporter nachhaken; eine kritische Öffentlichkeit kann ja stimulierende Wirkung entfalten, zumal es in Norddeutschland wohl keine kritischere Öffentlichkeit gibt als jene in Kiel. Und es ist ebenso löblich, dass Rapp nie die Sachebene verlässt; die innere Balance eines Zen-Meisters kann schließlich in sämtlichen Lebenslagen helfen. Das Tribunal jedenfalls tagte mal wieder am Samstagabend, nach dem Kieler 1:2 (1:1) gegen den FC St. Pauli.
Ob diese Niederlage dem Tabellenletzten nun den „mentalen K.-o.-Schlag“ versetzt habe? Natürlich sei man enttäuscht, erläuterte Rapp, und klar, angesichts der Gesamtlage müsste nun auch verstärkt darauf geschaut werden, wie sich die Konkurrenz im Ligakeller so schlage. Er werde weiterarbeiten, versicherte Rapp, und auch bei seinen Spielern gehe es fortan darum, „den Kopf oben zu halten“. Nächste Frage: Ob mit Blick auf die Ausgangslage jetzt nur noch „hoffen und beten“ helfe? Grundsätzlich gehe es darum, „gute Leistung“ zu erbringen, antwortete Rapp, eine Gelegenheit dafür wäre zum Beispiel das Auswärtsspiel nächste Woche in Leipzig – wohl wissend, dass das „sehr schwer wird“ und die Wahrscheinlichkeit eines Klassenverbleibs mit jeder zurückgelegten Etappe geringer wird.
Die Kieler tun, was sie können – nach Lage der Dinge reicht das aber nicht für die erste Liga
Viel hatten sich die Kieler von diesem Duell mit dem Mitaufsteiger St. Pauli versprochen, nicht zuletzt auch deshalb, weil man in der Vorsaison noch weitgehend auf Augenhöhe im Unterhaus unterwegs gewesen war. Am Samstag war jedoch noch mal in komprimierter Form zu sehen, warum sich die Kiezkicker deutlich galanter im Oberhaus etablieren konnten: Es ist – und da verfolgen die bissigen Kieler Lokalreporter bereits die gesamte Saison über die richtige Fährte – schlicht eine Frage der (individuellen) Qualität. Die Kieler schaffen es immer wieder, ein unbequemer Gegner zu sein, sie verfügen über eine durchdachte Spielanlage und haben dem Meister Leverkusen mal ein 2:2 nach 0:2-Rückstand abgetrotzt. Die Kieler tun, was sie können – nach der Lage der Dinge können sie allerdings einfach nicht genug, um sich in der Erstklassigkeit zu behaupten. Oder wie es der Verteidiger John Tolkin am Samstag formulierte: „Sport kann manchmal sehr grausam sein.“
Eine wahrheitsgemäße Gesamtbetrachtung war das. Denn die Küstenstädter haben es mal wieder fertiggebracht, ein umkämpftes Spiel zu verlieren, das auch nach Ansicht von St. Paulis Trainer Alexander Blessin nicht zwingend einen Sieger verdient gehabt hätte. Es handelte sich somit um einen Nachmittag von bemerkenswerter Symbolträchtigkeit.

Es waren gute Dinge zu besichtigen aus Kieler Sicht, etwa Alexander Bernhardssons früher Führungstreffer, erzielt durch einen präzisen Linksschuss von der Strafraumkante (21.). Kann man nicht besser machen. In anderen entscheidenden Szenen hätte es dagegen, nun ja, Verbesserungspotenzial gegeben. Nach einer halben Stunde hätte Torwart Thomas Dähne einen hohen Ball humorlos weg fausten können, stattdessen ließ er ihn nach einer Kollision aus den Händen plumpsen; nach überstandener VAR-Prüfung ging Danel Sinanis Seitfallziehertor zum 1:1 (34.) dann offiziell in die Wertung ein. Und in der Nachspielzeit kulminierte das Unglück zu einem Kieler Eigentor; ein Klärungsversuch von Max Geschwill landete derart knapp hinter der Torlinie, dass es fürs menschliche Auge nicht zu erkennen gewesen wäre. Doch die Torlinientechnik lieferte einen gerichtsfesten Beweis: 1:2 (90.+2).

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Holstein musste somit einen Unlucky Punch einstecken, der die Dynamik der bisherigen Saison unterstreicht: In der ersten Liga gibt es eine andere Fehlertoleranz als in Liga zwei. Die Kieler haben – finanzbedingt – jedoch bloß eine Gruppe an den Start bringen können, deren Kern aus dem überraschenden Aufstiegsteam besteht, zuzüglich einiger Zugänge aus der Nische. Das kann auch mal so gut klappen wie bei Stürmer Phil Harres, der in der Vorsaison noch in der vierten Liga kickte und nun mit acht Saisontreffern die interne Schützenliste anführt. Andere Spieler scheinen sich noch in der Akklimatisierungsphase zu befinden – beim Blick auf die Restlaufzeit der Saison ist allerdings nicht davon auszugehen, dass dieser Prozess rechtzeitig abgeschlossen werden kann.
Coach Marcel Rapp hat beharrlich auf diese Unwuchten hingewiesen, ohne dabei zu vergessen, sich verlässlich vor seine Spieler zu stellen. Seine Herangehensweise wurde vom Kieler Sportchef Carsten Wehlmann jüngst mit einer Vertragsverlängerung belohnt, die zugleich eine Botschaft enthielt: Rapps Moderationsgeschick wird ligaunabhängig gefragt bleiben. Doch auch aktuell gibt’s da noch einiges zu tun. Der Berater des Kieler Verteidigers Marko Ivezić ließ über russische Medien verlauten, dass Kiels Abstiegschancen bei „90 Prozent“ lägen, sein Mandant habe jedoch nicht vor, „zweitklassig“ zu spielen. Dem Vernehmen nach hat Rapp seine innere Balance bislang dennoch wahren können.