Holland vor der Fußball-EM:Umringt von Diven und 16 Millionen Trainern

Wie weit schaffen es die Niederlande bei der Fußball-EM? Offensiv hat Bondscoach Bert van Marwijk so gutes Personal, dass er sich rechtfertigen muss, warum er den Torschützenkönig aus England spielen lässt - und nicht Klaas-Jan Huntelaar. Der fehlende Zusammenhalt in der Mannschaft scheint das noch größere Problem.

Ulrich Hartmann, Amsterdam

Die Launen der niederländischen Mannschaft erfordern kurz vor der EM sogar eine Gebrauchsanweisung für die Fans: "Bitte unterstützten Sie ihre Mannschaft in einer positiven und enthusiastischen Weise!", blinkte es am Samstagabend vor dem letzten Testspiel gegen Nordirland von den Anzeigetafeln in der Amsterdam-Arena.

Soccer friendly - Netherlands vs Northern Ireland

Torjubel, auch bei der EM? Robin van Persie (rechts) und Ibrahim Afellay.

(Foto: dpa)

Das stets geschlossen in Orange und eindrucksvoll laut auftretende Publikum hatte sich bei den vorherigen Partien gegen Bulgarien (1:2) und die Slowakei (2:0) ungewöhnlich still verhalten - eine Antwort auf die mangelhafte Ästhetik im Spiel des WM-Finalisten von 2010. Gegen willfährige Nordiren verabschiedeten sich die Niederländer dann aber doch versöhnlich ins osteuropäische Fußball-Abenteuer. Beim 6:0 gegen die harmlose Nummer 100 der Weltrangliste schrie das Publikum bei jedem Tor auf, als sei dies bereits ein Schritt in Richtung Titel.

Wir brauchen noch keine Polonaise zu laufen", bremste Nationaltrainer Bert van Marwijk nach dem höchsten Testsieg seit 18 Jahren die Euphorie. Auch Kapitän Mark van Bommel ordnete den Kantersieg nüchtern ein, erinnerte aber gern daran, dass das letzte Testspiel vor der ansehnlichen WM 2010 ein vergleich- bares 6:1 gegen Ungarn hervorgebracht hatte. "Man darf das nicht überbewerten, aber es ist immer gut, wenn man so gewinnt und den Zuschauern etwas bietet", sagte van Bommel. 51 000 in der Arena unterstützten ihr Team dann auch wirklich enthusiastisch.

Wenn die Nationalmannschaft spielt, geht es in Amsterdam zu wie am Nationalfeiertag: Ausgelassenheit in Orange, lange Schlangen vor den Buden mit Trikots, Hüten und Fahnen. Am chromglitzernden Lastwagen des Verbands, in dem Fanartikel verkauft wurden, hing ein großes Abbild des grinsenden Schalker Stürmers Klaas-Jan Huntelaar, dabei hat der echte Huntelaar dieser Tage wenig Anlass zur Freude. Der 28-Jährige wurde mit 29 Toren in 32 Einsätzen zwar Bundesliga-Schützenkönig und trifft in der niederländischen Elf im Schnitt alle 98 Minuten.

Doch dieser statistische Spitzenwert hat Bondscoach van Marwijk nicht veranlasst, Huntelaar zum Stammstürmer zu erklären. Er wählte stattdessen erneut Robin van Persie vom FC Arsenal, mit 30 Toren in 38 Spielen Torschützenkönig der englischen Premier League, der im Nationalteam aber nur alle 163 Minuten einen Treffer erzielt.

"Ich ben boos geworden"

Huntelaar sieht sich daher faktisch im Vorteil, er geizte nicht mit Vokabeln des Unmuts, nachdem ihm van Marwijk am Wochenende erklärt hatte, dass er zum EM-Start gegen Dänemark van Persie beginnen lasse. Das Gespräch auf van Marwijks Hotelzimmer hieß im Jargon der niederländischen Presse "Slechtnieuwsgesprek". Huntelaar sieht es ähnlich. "Ich ben boos geworden", erzählte er hinterher, also: "sauer, böse". Van Marwijk ist in der seltsamen Situation, sich dafür rechtfertigen zu müssen, den Torschützenkönig der Premier League aufzubieten. Aber er ist eben Dompteur einer stattlichen Meute von Alphatieren.

Huntelaar muss er nun bei Laune halten, indem er seine Entscheidung relativiert. "Ich habe Robin van Persie ja noch nicht für die komplette EM ausgewählt, ich habe Klaas-Jan gesagt, dass ich keine Entscheidungen für drei, vier Spiele treffe." Als Huntelaar gegen Nordirland nach 56 Minuten für van Persie eingewechselt wurde, hatte Letzterer zwei Tore geschossen und dem starken, zuletzt lange verletzten Linksaußen Ibrahim Afellay vom FC Barcelona zwei Torvorlagen gewährt. Huntelaar gelang hingegen wenig. Dass er sich kurz vor der EM öffentlich beklagt, verrät viel über die leichte Erregbarkeit in der mit allerhand Diven besetzten Mannschaft.

Die Zeitungen fragen nun eifrig ihre Leser, wen sie spielen lassen würden. Eine Mehrheit stimmt für den Sympathieträger Huntelaar. Van Marwijks Schwiegersohn van Bommel muss das Votum des Volkes auch aus familiären Gründen abtun: "In Holland gibt es immer Diskussionen", sagt er lächelnd, "wir sind ein kleines Land mit 16 Millionen Bundestrainern, da gehört es dazu und ist doch auch schön, dass jeder das so intensiv miterlebt und etwas dazu sagen will."

Der früher beim FC Bayern und nun beim AC Mailand spielende van Bommel tut abseits des Platzes gerne diplomatisch: "Wir haben nicht nur elf gute Spieler, sondern 23, und wenn man die EM gewinnen will, braucht man alle", sagt er - auch den Flügelstürmer Dirk Kuyt, 31, der vom FC Liverpool zu Fenerbahce Istanbul wechselt und nicht zum ebenfalls interessierten Hamburger SV.

Dänemark, Deutschland und Portugal heißen in der EM-Gruppe die Gegner. Die Frage ob ihre fragile Abwehr und ihr brüchiger Zusammenhalt dem hohen Standard der internationalen Konkurrenz widersteht, ist fraglich. "Wir haben in München (beim 2:3 gegen den FC Bayernnicht gut gespielt und gegen Bulgarien auch nicht", sagt van Bommel, "jetzt wird unser Spiel langsam besser, aber auch das ist keine Garantie dafür, dass wir bei der EM gut spielen."

Van Marwijk räumt ein, "dass wir hinten links Probleme haben". So ist nicht alles ausgeräumt, wenn die Holländer an diesem Montag ins WM-Quartier nach Krakau fliegen. Zu allen drei Gruppenspielen in Charkow reisen sie mit dem Flugzeug an und wieder ab. Zumindest bei den Bonusmeilen werden sie also zu den besten Teams gehören.

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