Süddeutsche Zeitung

Holland nach dem 0:3 gegen Deutschland:"Angetrunkene Blaskapelle ohne Dirigenten"

"Wir haben hochverdient verloren. Das tut weh": Nach dem 0:3 gegen Deutschland hat Bondscoach Bert van Marwijk die Gewissheit, dass die Niederlande von der europäischen Spitze ein Stück entfernt ist. Von der deutschen Elf zeigt er sich hingegen tief beeindruckt.

Carsten Eberts, Hamburg

Ob Bert van Marwijk seine Worte bewusst wählte, um sein kleines, fußballverrücktes Land aufzuwecken? Oder ob es einfach aus ihm herausplatzte? Nach dem deprimierenden 0:3 gegen die deutsche Elf in der Hamburger Arena nahm der Bondscoach auf dem Podium der Pressekonferenz Platz, nippte mangels Glases direkt aus der Wasserflasche und erklärte kurzerhand: "Für uns war es ein peinliches Spiel. Wir haben hochverdient verloren. Das tut weh."

Als zweitbeste Mannschaft Europas hatte Bundestrainer Joachim Löw die Holländer vor dem Kräftemessen gepriesen - der Fußballabend in Hamburg zeigte, dass nicht nur er sich offenbar geirrt hatte. Spanien und Deutschland wirken spielerisch viel weiter enteilt, als manch einer vermutet hatte. Die Holländer hingegen sind, zumindest in dieser Verfassung, ein gutes Stück von beiden Topteams entfernt. "Es ist gut für die EM, dass wir das jetzt wissen", erklärte van Marwijk trocken, "und nicht erst in einem halben Jahr."

Lange Jahre hatten die Holländer die Gewissheit, dass sie in Europa den besten, den schönsten Fußball spielten - vielleicht sogar den best-schönsten der ganzen Welt. Das ist längst nicht mehr so. Schon im WM-Finale 2010 versuchten sie, den überlegenen Spaniern mit überhartem Spiel beizukommen - und scheiterten. Gegen den alten Rivalen aus Deutschland nun, wenn auch nur in einem Testspiel, halfen ihnen nicht einmal mehr rohes Spiel und waghalsige Grätschen.

"Die haben unglaublich gespielt", sagte van Marwijk über die deutschen Spieler, die seine Abwehr ein ums andere Mal narrten, "die haben viel mehr Potential als wir." Das war der Gipfel seiner Analyse. Schlimmeres kann ein Holländer über seinen Nachbarn eigentlich kaum sagen.

Die heimische Presse sah das ähnlich. "Oranje chancenlos", titelte De Telegraaf in seiner Mittwochausgabe: "In Hamburg haben unsere Nachbarn die Mannschaft mit einem äußerst bissigen und schnellen Spiel deklassiert." Der Amsterdamer Volkskrant schrieb gar: "Deutschland war ein harmonisches Orchester, die Niederlande eine angetrunkene Blaskapelle ohne Dirigenten."

Auch van Marwijk hatte in den 90 Minuten zuvor allerhand Deprimierendes gesehen. Wie die Deutschen die rechte Abwehrseite der Niederlande auseinanderdividierten, insbesondere über Mesut Özil und Thomas Müller, die stets mindestens zwei Schritte schneller waren als jeder holländische Abwehrspieler, der sich ihnen in den Weg stellte. Wie Edson Braafheid von einer Überforderung in die nächste stolperte, wie selbst ein hervorragender Fußballer wie Wesley Snijder diesem Wirbel nichts entgegenzusetzen hatte und sich nur mit harten Fouls zu helfen wusste.

Van Marwijk hatte auch Mark van Bommel gesehen, seinen 34-jährigen Kapitän, der gegen die flinken Deutschen wie ein Profi aus einer anderen Zeit wirkte. "So eine Niederlage hat niemand erwartet", erklärte der frühere Bayern-Spieler später: "Ich sage geradeaus, wie es ist: Deutschland ist für mich der große EM-Favorit." In der Nachspielzeit, als die Partie längst entschieden war, ließ sich van Bommel unweit des Mittelkreises von Mesut Özil sogar tunneln. Mehr Sinnbild ging nicht.

Natürlich war es nicht die beste holländische Elf, die in Hamburg auf dem Platz stand. Zumindest in der Offensive: Van Marwijk musste auf Robin van Persie (FC Arsenal), Rafael van der Vaart (Tottenham Hotspurs) und Arjen Robben (FC Bayern) verzichten - drei Spieler, die an einem guten Tag einer Partie eine ganz andere Richtung geben können. Mit ihnen hat van Marwijk im Angriffsspiel ganz andere Möglichkeiten. Ersetzen kann Holland seine drei Topleute aber nicht.

Es ist jedoch vor allem die Defensive, die ihm mehr Sorgen machen muss. Die Viererkette mit Gregory van der Wiel, John Heitinga, Joris Mathijsen und Edson Braafheid, davor die Doppel-Sechs mit Mark van Bommel und Kevin Strootman - mit ihnen muss van Marwijk arbeiten, auch gegen Teams wie Spanien oder Deutschland. Bessere Defensivspieler hat der Bondscoach derzeit nicht.

"Defensiv haben wir im Detail nicht gut ausgesehen", urteilte van Marwijk deshalb, was noch eine recht freundliche Umschreibung war. Auch im Großen und Ganzen sah seine Abwehr alles andere als gut aus. Wäre Miroslav Klose in der ersten Halbzeit nicht an einer präzisen Özil-Hereingabe vorbeigerutscht und hätte er sich kurz darauf für einen Kopf- statt für einen Schulter-Ball entschieden: Die Holländer hätten noch höher als 0:3 verlieren können.

Van Marwijk war mit seiner Analyse noch nicht fertig. Er fuhr damit fort, was seinen Landsleuten am meisten weh tun musste: mit Lob für die deutsche Mannschaft. "Sie haben so viele gute Spieler, vor allem kreative Spieler", sagte van Marwijk, "da macht es auch nichts, wenn ein paar verletzt sind." Anders als bei seiner eigenen Elf. Auch den Deutschen fehlten am Dienstagabend mit Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger wichtige Spieler, zudem saß Mario Gomez nur auf der Bank. Dies hatte van Marwijk nicht vergessen.

Dann verließ Bert van Marwijk die Pressekonferenz. Nicht sauer, nicht böse, aber nachhaltig beeindruckt. Nach ihm kam schon bald Joachim Löw - van Marwijk verpasste seinen deutschen Kollegen nur um wenige Minuten. Zuvor hatte der Bondscoach dem Bundestrainer auf dem Platz gratuliert. Jemand sollte Löw dennoch von den Marwijk'schen Lobeshymnen auf die deutsche Elf berichten. Das ist hiermit erledigt.

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