Deutschland bei der Hockey-WM:Eine Mentalität wie keine andere Mannschaft

Deutschland bei der Hockey-WM: Rechtzeitig warmgeschlenzt: Gonzalo Peillat (mittig) jubelt über seinen Treffer zum 3:3 im WM-Halbfinale gegen Australien.

Rechtzeitig warmgeschlenzt: Gonzalo Peillat (mittig) jubelt über seinen Treffer zum 3:3 im WM-Halbfinale gegen Australien.

(Foto: Frank Uijlenbroek/dpa)

Beim Halbfinalsieg gegen Australien dreht das deutsche Hockey-Nationalteam zum zweiten Mal hintereinander kurz vor Schluss ein Spiel. Im Finale ist das erste WM-Gold seit 17 Jahren möglich.

Von Volker Kreisl

Am Schluss dieser Partie schienen die deutschen Hockeyspieler selbst etwas überfordert zu sein mit der Situation. Das Finale der Partie war zu perfekt. Niklas Wellen war schon hochgesprungen nach seinem Treffer, so hoch, als würde er nun davonfliegen vor Glück nach seinem Siegtor. Doch eines hatten die vergangenen 60 nervenzehrenden Minuten gelehrt: Der Spielstand ist erst dann gültig, wenn der Videoreferee über den Einspruch der Australier entschieden hat.

Also: Noch einmal der Schwenk in den Videoraum, wo der Kollege Video-Referee noch mal die zurückliegende Szene checken musste, wie schon so oft in diesem Spiel. Dann endlich war's verbrieft: Wellens Tor sechs Sekunden vor dem Spielende galt, die deutsche Hockey-Mannschaft steht im Finale der WM in Bhubaneswar und trifft dort am Sonntag (14.30 Uhr) auf Belgien, das im zweiten Halbfinale die Niederlande besiegt hatte.

Das Ziel, ausgerufen von Trainer André Henning und von allen anderen auch, ist immer noch der erste WM-Titel seit 2006. Wellen sagte: "Dass wir es in der regulären Spielzeit gedreht haben, ist verrückt, das Team ist verrückt. Wir sind hier noch nicht fertig." Und wenn es denn klappen sollte, dann wegen einer Mentalität, die wohl keine andere Mannschaft in diesem Turnier derart zelebriert hat wie die Deutschen: die Kunst der späten Rückkehr.

Zwei Spiel-Qualitäten hat dieses Team: eine deutsche und eine argentinische

Bereits im Viertelfinale hatte die Mannschaft eine fast unmögliche Situation gemeistert, einen 0:2-Rückstand gegen England binnen zwei Minuten kurz vor Schluss noch egalisiert und dann im Penalty-Shootout vollendet. Nun, im Halbfinale, wiederholte sich dieses Verschwinden und Zurückkommen auf ähnlich dramatische Weise. 2:0 lagen die Australier vorne, statistisch waren sie in den vergangenen Jahren haushoch überlegen. Erst im dritten und vierten Viertel setzten sich die Deutschen effektiver zur Wehr, und abermals gelang die Wende auf wundersame Weise. Das hatte einerseits mit der Qualität der deutschen Spieler zu tun, von denen höchstens die zentralen Akteure Mats Grambusch, Niklas Wellen, Martin Zwicker und Torwart Alexander Stadler etwas hervorstachen. Die Spielwende hatte indes auch mit der anderen, der argentinischen Spielqualität im deutschen Auftreten zu tun, genauer, mit Gonzalo Peillat.

Deutschland bei der Hockey-WM: Den idealen Hebel für die Kunst des Schlenzens: Gonzalo Peillat (l.) ist als als Strafeckenschütze berüchtigt.

Den idealen Hebel für die Kunst des Schlenzens: Gonzalo Peillat (l.) ist als als Strafeckenschütze berüchtigt.

(Foto: Dibyangshu Sarkar/AFP)

Der 30 Jahre alte Argentinier ist vor einigen Jahre nach Deutschland gezogen, die hiesige Freundin und der Ärger im Heimat-Team begünstigten die Entscheidung. Peillat wollte weiter hochklassig spielen, seit seiner Einbürgerung ist das nun der Fall, von seinen Fähigkeiten als Strafeckenschütze raunte man seitdem. Und jetzt, im Halbfinale gegen Australien, wurden diese auch sichtbar.

Die erste Hälfte des Spiels blieb Peillat eher passiv, in der 42. Minute begann dann sein Auftritt am Strafecken-Punkt; es wirkte, als schlenze er sich warm. Vier Versuche brauchte er, schlug den Ball flach, mal rechts mal links, immer wieder war ein Bein dazwischen, was den nächsten Versuch einbrachte. Mit dem fünften Anlauf kam er durch, 1:2, der Bann war gebrochen. Das Spiel ging weiter, und es wirkte, als würde Peillat immer souveräner. Es heißt, dieser Eckenschütze habe die idealen Hebel für die Kunst des Schlenzens. Arm- und Beinlängen haben das beste Verhältnis für die gedrungene Haltung beim Abziehen. Er zauberte die Kugel nun jedenfalls mit Effet unter die Querlatte, für Torwart Andrew Charter im Wortsinne nicht zu fassen - 2:2.

Die Dramaturgie schien sich an keine Regie-Regel mehr zu halten. Wieder gerieten die Deutschen in Rückstand, doch das kümmerte niemanden, das 2:3 per Strafecke im Schlussviertel von Blake Govers schockte sie nicht. Wie schon im Viertelfinale blieb das Team kurz vor dem Ende fokussiert. Weiter behielt es mehr Spielanteile, kam zu einer weiteren Strafecke, ein Job für Peillat, der die Kugel nun flach in die rechte Ecke schickte, zum 3:3.

Kurz schienen sich die Teams wie müde Boxer nur noch abzutasten und aufs Shootout zu setzen, da machten sich die Deutschen zu einem letzten Angriff auf. Über die linke Seite kam der Ball quer vors Tor geflogen, flog und hüpfte über und unter australischen Kellen durch, bis ans entfernte Eck, wo Niklas Wellen stand, den Ball im Tor verschwinden ließ - und dann durch die Luft flog und den Rest des Spiels mit seinem Team zelebrierte: den aussichtslosen australischen Torprotest, und die letzten sechs Sekunden, die in diesem außergewöhnlichen Spiel noch auf der Uhr übrig waren.

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