Süddeutsche Zeitung

Hockey:Stadt-Land-Fluss hilft auch

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Allein zu Hause drohen Mannschaftssportler nach der Olympia-Verschiebung Teamgeist und Automatismen zu verlieren - Hockey-Kapitänin Janne Müller-Wieland hat deshalb viel zu tun.

Von Volker Kreisl, München

Vor dem Einschlafen hatte sich die Mannschaft noch einmal gewehrt. Einige Teile trainierten noch etwas Kraft am Olympiastützpunkt. Andere schafften es noch für kleinere Einheiten auf den Platz, aber dann fuhr draußen eine Patrouille vorbei, und bald gingen auch sie nach Hause. Nun lebt und arbeitet jede Spielerin zwar in ihrem eigenen Kosmos weiter. Aber das Team, dieses eigene Wesen mit seinen speziellen Fähigkeiten und seinem eigenen Geist, das ist jetzt erst mal eingeschlafen.

Und die Hockey-Kapitänin hatte zunächst gezweifelt. Denn offen ist, wie lange es braucht, bis der Teamgeist wieder fit ist. Lohnt es sich also, noch mal einen Neuanfang zu versuchen, wo doch das Leben nach dem Sport, der Beruf, deutlich vor ihr lag? Aber dann war da noch diese Zahl: 323. So viele Länderspiele hat Janne Müller-Wieland absolviert. Eine Karriere von 14 Jahren hat sie hinter sich. Nur, das 323. Spiel fand in Madrid statt, vor wenigen Zuschauern, bei sieben Grad Celsius. "Und so", sagt sie "will ich nicht aufhören."

Ehe sie auseinandergehen mussten, standen die Hockey-Nationalspielerinnen vor dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten. Sie waren Medaillenkandidatinnen für die nun verlegten Olympischen Spiele 2020. Es war ein jahrelanger Prozess mit Verjüngung, dem Aufbau von blindem Verständnis auf dem Platz, dem Zusammenspiel mit dem neuen Coach Xavier Reckinger. Ein Spitzenteam im Hockey erinnert ein wenig an eine Raumschiff-Crew. Die Trainer tragen Headsets, die Spieler bilden Untereinheiten, jeder hat eine spezielle Aufgabe, alles geht rasend schnell, alles greift ineinander. Und in der Stille dieser Wochen hat Müller-Wieland, 33, die Aufgabe, die Besatzung zusammenzuhalten.

Die ist verstreut, in Berlin, Köln, Mannheim, Hamburg oder London. Da wohnt Müller-Wieland mit ihrem Lebensgefährten, wegen des Trainingsstopps hat sie ihre Rückkehr nach Deutschland verschoben, die Arbeit findet nun ohnehin im Internet statt: Es geht darum, Kontakt herzustellen. Die einzelnen Nationalspielerinnen sind viel zusammen und nun womöglich ratlos, vielleicht frustriert. "Alles war durchgetaktet bis in den letzten Moment", sagt Müller-Wieland, und wenn man vielleicht keinen Partner hat, "dann sitzt man plötzlich alleine in der Isolation." Deshalb ist jetzt Gruppen-Yoga angesagt.

Die Idee, sich in Teamstärke im virtuellen Raum zu versammeln, findet Anklang. 15 Spielerinnen schalten sich schon mal zu, wenn die ehemalige polnische Hochspringerin und heutige Yoga-Lehrerin Barbara Plaza ihren Laptop hochfährt und zur großen Entspannung einlädt. Plaza ist schon länger beim Team, man kennt sich, und obwohl dabei gar nicht viel geredet wird, ist die Stimmung vertraut. Überdies kann man beim Yoga das Denken abschalten, wonach man sich wohler fühlt und freut auf den nächsten Termin, was wiederum etwas Halt gibt. "Man fühlt sich zusammen", sagt Müller-Wieland. Kurzum: Die Mannschaft wacht ein bisschen auf.

Überhaupt, Halt ist ein wichtiges Wort in diesen Tagen. Deshalb sei es auch wichtig, schon mal an die Zukunft zu denken und einen Plan zu entwickeln, wie man schnell wieder ins Zusammenspiel findet. Darüber ist Müller-Wieland mit den Mitspielerinnen ständig im Gespräch. Pläne werden entworfen für den Fall, dass vielleicht wieder in kleinen Gruppen trainiert werden kann, oder dass das ganze Team wieder zusammenkommt.

Bis dahin lässt sich auch zu Hause mehr trainieren, als nur die Bauchmuskulatur oder die Beinkraft. Zum Beispiel das Auge und der Umgang mit den Gegnern, weshalb nun jede Spielerin Videos der Olympiagegner studiert. Außerdem erfordert Hockey Ballbeherrschung, es geht um das Gefühl für die Bewegung mit Schläger und Ball auf engstem Raum, "um die feinfühligen Sachen", sagt Müller-Wieland. Sie selber hat ihr Stück Kunstrasen in der Garage ausgelegt, andere im Wohnzimmer oder auf dem Balkon.

Und dann ist da noch jene Motivation, die von keiner Kapitänin extra gefördert werden muss: der Suchtfaktor Olympia, der Müller-Wieland durch die Karriere getragen hat. Gewiss, Olympia sei durch Doping und Korruption auch etwas in Verruf geraten, doch die Sucht könne sie nicht bändigen. Das sei schon immer so gewesen, 2008 in Peking und 2012 in London und erst recht in Rio de Janeiro 2016, als sie Mitglied des Bronzeteams war. Insbesondere stellt Olympia für dieses Team, das zuletzt in Antwerpen EM-Silber geholt hatte, die Chance dar, eine Spanne von drei Jahren zum ganz großen Erfolg zu führen. Und aktuell hängt die Sehnsucht nach Olympia wohl damit zusammen, dass dieses Treffen mit so vielen Menschen und mit seiner ganzen Aufregung das Gegenteil der Corona-Isolation bedeutet.

Aber es gibt Mittel gegen die Stille, auch wenn man nicht gleich so umtriebig sein muss wie Müller-Wieland. Die hat im Olympiajahr 2016 den Master in Business abgelegt und ein Startup gegründet. Nun kommuniziert sie mit Beratern für ihr Unternehmen, ist mit dem Internationalen Hockeyverband als Athletensprecherin verbunden, mit dem Nationalteam verlinkt, frischt vielleicht ihr Spanisch etwas auf oder macht sich - nur aus Neugierde - an den Anfängerkurs im Programmieren, den sie geschenkt bekommen hat.

Und da ist noch diese Stadt-Land-Fluss-App. Auch zu zweit gut zu spielen. Einfach Stürmerin Charlotte Stapenhorst in Berlin anrufen, loslegen, und schon ist der Teamgeist wieder wach.

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SZ vom 29.03.2020
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