Süddeutsche Zeitung

Hockey-Europameisterschaft:Nach der Abreibung

Lesezeit: 3 min

Die Deutschen stehen vor einer schweren Aufgabe. Das Team hat Potenzial, muss aber sein Selbstvertrauen wiederfinden.

Von Volker Kreisl, München/Antwerpen

Richtig starke Mannschaften haben angeblich dieses entscheidende Wissen. Sie haben verinnerlicht, so heißt es, dass sie jedes Spiel, jeden Rückstand noch drehen können. Dazu braucht es aber ein gemeinsames Erlebnis, und eigentlich, möchte man meinen, haben die meisten deutschen Hockeyspieler dies doch noch im Kopf!

Rio 2016, olympisches Viertelfinale: 0:2 - fast war man schon draußen. Aber dann warf das deutsche Team alles nach vorne und schaffte in der letzten Minute noch ein Tor. Das war zwar nur ein kleiner Anschlusstreffer, aber der Glaube war groß. Die Mannschaft rannte weiter, sie rannte und rannte, auch Timur Oruz rannte, auf rechts. Noch drei Sekunden zeigte die Uhr, Oruz schlug den Ball einfach diagonal nach vorne, da kam Florian Fuchs von links, tick, tack, noch eine Sekunde ...

Aber irgendwann verblassen eben auch Erinnerungen an solche Erweckungserlebnisse. Gerade die Hockeyteams, die sich zwischen den olympischen Höhepunkten immer wieder neu erfinden müssen, erleben das. Seit Rio machten die Deutschen einen Trainerwechsel und einen Teilneubau mit und haben es neuerdings mit lauter gepäppelten internationalen Gegnern zu tun. Obendrein fällt noch Stürmer Marco Miltkau wegen Muskelproblemen aus. Nun beginnt in Belgien die EM der Männer und Frauen - und damit die heiße Phase der Qualifikation für Olympia 2020. Und die Mannschaft von Bundestrainer Stefan Kermas geht nicht mehr mit der breiten Brust des Medaillengewinners ins Turnier, wie die vergangenen 20 Jahre, sondern als Weltranglisten-Siebter.

Ins Bewusstsein der Spieler hat sich überdies zwischendurch ein anderes Erlebnis geschoben: Das 0:8 gegen die Belgier, die neben den Niederlanden Favorit auf den EM-Titel sind. 0:8 waren die Deutschen vor acht Wochen in der Pro League deshalb untergegangen, weil noch Reste des alten Rio-Vertrauens da waren, und man beim 0:3 wie üblich alles nach vorne warf. Das belgische Team aber sah sich das in Ruhe an, ließ die Deutschen auflaufen, konterte präzise und am Ende musste Kermas feststellen: "Alles, was wir heute probiert haben, ging total in die Hose." Der Wiederaufbau dauert eben doch länger.

Es handelt sich ja um einen Strukturwandel. Bei vielen Nationen wird gerade Förder- oder Sponsorengeld ins Hockey gesteckt, auf diese Art bekamen die Spitzenteams in Belgien, den Niederlanden, in Großbritannien, aber auch in Frankreich, Indien oder Australien halbprofessionelle Strukturen. Sie trainieren bis zu zweimal die Woche in einem Zentrum und entwickeln ihr Spielsystem schneller als die Deutschen, die großteils noch mit einem Studium beschäftigt sind.

Auch hatten sie einen Generationswechsel zu bewältigen, der sich in Etappen vollzog. Die Abschiede der Führungsspieler Moritz Fürste, Christopher Zeller und davor auch noch Max Müller konnten nur nach und nach kompensiert werden. Martin Häner und vor allem der neu gewählte Kapitän Mats Grambusch wachsen gerade in ihre Aufgaben als Taktgeber. Bis daraus wieder eine überwiegend siegreiche Mannschaft wird, dauert es etwas länger, so der offizielle Plan, vermutlich bis zu den Spielen 2024 in Paris.

Das heißt aber nicht, dass nicht alles passieren könnte - auch die schlimmen Traumata können im Sport schnell verblassen, bei den Hockeymännern nun schon mit dieser EM.

Denn Kermas' Team besteht ja eigentlich aus erfahrenen und aus jungen aber dynamischen Spielern, doch die meisten waren in den vergangenen Monaten bei dieser neu geschaffenen Pro League wegen Vorlesungen und Seminararbeiten mit dem Kopf auch woanders. Die Pro League bestritt somit ein großer, aber rotierender Kader, womit die jungen Spieler statt der im Frühsommer üblichen Test-Turniere zwar echte Pflichtspiel-Erfahrung abbekamen, aber eben auch Rückschläge und eine Abreibung.

Die Frage ist nun, ob die Mannschaft von Kermas rechtzeitig alle Bestandteile ihrer seit zwei Jahren angepeilten Spielidee zusammenkriegt. Fast alle Erfolgsteams im Hockey spielen mit mehr oder weniger starkem Pressing, was auch der deutsche Ansatz ist. Allerdings fehlte es bis zu den intensiven Trainingslager-Einheiten vor dieser EM noch an den anderen Komponenten außer des Vollpressings, nämlich am Toreschießen, oder aber - im Falle des Ballverlusts - am koordinierten und flotten Rückzug.

Man könnte nun mahnen, die sechs jüngsten Spiele seien ja nur Tests gewesen - Experimente, in denen auch die Gegner etwas ausprobieren. Tatsache ist allerdings, dass die zuletzt gerupften Deutschen gegen Belgien einmal unentschieden spielten und einmal nur knapp verloren, gegen die Niederlande einmal gewannen und einmal knapp verloren und zuletzt noch Spanien 3:0 und Irland 1:0 schlugen. "Wir haben defensiv verschiedene Systeme ausprobiert", stellte Kermas fest, "die Jungs haben das gut umgesetzt."

Und gut möglich ist es, dass im Unterbewusstsein der Mannschaft die Sache mit dem 0:8 schon kaum noch nachwirkt, ja, dass bei manchen vielleicht sogar der Rio-Moment, diese doch sehr emotionale Erinnerung, wieder hervortritt, ganz klar.

Eine Sekunde war damals noch zu spielen, und Fuchs hielt tatsächlich die Kelle in Ortuz' Flanke und lenkte den Ball ins Tor, worauf es in die Verlängerung ging, die die Deutschen durch Moritz Fürstes Treffer gewannen.

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Quelle:
SZ vom 17.08.2019
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