Hockey:Auto-Coaching im Zeitraffer

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Die deutschen Teams änderten ihre Spielphilosophie - der Ertrag könnte jetzt gewaltig sein.

Von Volker Kreisl, Rio de Janeiro

Dieses Spiel durfte nicht verloren gehen. Gegen das Vorrunden-Aus half den deutschen Hockeyspielerinnen nur ein Sieg. Was sie gegen Argentinien nun also überhaupt nicht gebrauchen konnten, war ein Gegentor. Sie hatten den Ball, sie hätten ihn steil in die Tiefe schicken können, aber dann spielten sie doch lieber nach rechts, oder nach links und dann wieder zurück. Sie wollten attackieren und griffen doch nicht an. Ohne es zu merken, ließen sie sich immer weiter zurückdrängen, spielten weitere unsichere Sicherheitspässe, und irgendwann prallte der Ball gegen ein Bein, fiel der Gegnerin vor die Kelle und lag im eigenen Tor.

"Die einzige Konstante, die wir hatten, war die Unkonstanz"

Am Ende flogen sie bei den Spielen in London raus, und Szenen wie diese trugen dazu bei, dass der Deutsche Hockey-Bund nicht nur sein Personal neu aufstellte, sondern auch gleich seine ganze Spiel-Philosophie. "Die einzige Konstante, die wir hatten, war die Unkonstanz", sagt der heutige Frauen-Bundestrainer Jamilon Mülders. Das betraf hauptsächlich die Frauen, aber weil sich auch das Männerhockey immer weiter entwickeln soll, musste sich generell etwas ändern. "Wir hatten drei Möglichkeiten", sagt Mülders: "Erstens aufhören. Zweitens weitermachen wie bisher und jammern. Drittens das Haus einreißen und neu aufbauen." Natürlich fiel die Wahl auf Drittens, und daraus wurde eine radikale Reform, die nun in Rio in einem der spannendsten Auftritte der gesamten deutschen Olympiamannschaft mündet.

Zu beobachten sind zwei Teams, die aus vielen jungen Spielern bestehen, und von jungen Trainern geführt werden, die Männer vom 35 Jahre alten Valentin Altenburg, die Frauen von Mülders, 40. Erfunden wurde kein neues Spiel und keine neue Taktik, sondern die Selbstverantwortung auf dem Platz. Also eine Fähigkeit, die man nicht üben oder nachmachen kann, sondern sich zu eigen machen muss. Verfügt aber mal eine ganze Mannschaft darüber, dann wird sie, wenn es um die Wurst geht, mit Herz angreifen und sich den Ball nicht mehr selber "reinmurmeln", wie Mülders das Gegentor von London beschreibt. Vor allem bei den Frauen ist der Auftritt in Rio kaum vorherzusagen. Man sei mit der Entwicklung vorangekommen, auch die jüngeren Spielerinnen sind athletisch austrainiert und technisch ausentwickelt, nur - ob sie schon innerlich ausemanzipiert sind, wird erst dieses Turnier zeigen, das mit dem ersten Spiel am Sonntagabend gegen China beginnt.

Mülders spricht die Sprache der modernen Team-Manager, er redet von "Ebenen", die "vertikal" und "horizontal" "vernetzt" werden, von "Selbstreflexion" und "Feedback-Kultur". Coach-Kommandeure alter Schule würden da davonlaufen, aber es ist ja auch umgekehrt so. Wollte man Mülders zwingen, Taktik nach klassischer Art per Frontalunterricht und Ansage von oben zu lehren, dann wäre er schnell weg. Er sagt: "Das passt nicht zu mir."

Am Anfang war die Mannschaft dann auch etwas überrascht, als sie nach einer Niederlage eine Predigt erwartete, stattdessen aber in kleinere Gruppen aufgeteilt wurde, die jede für sich ihre Gründe für die Schlappe ausarbeiten, diese auf einen Nenner bringen und vortragen musste. Das war anstrengend, aber, so glaubt Mülders, "sie haben es schnell verstanden".

Die Schwankungen blieben zunächst, trotzdem wuchs die Selbstsicherheit. Die Hockey-Teams waren die ersten deutschen Ballsport-Mannschaften, die sich 2015 für Rio qualifizierten. Beim Qualifikations-Turnier in Valencia wurde die 21 Jahre alte Charlotte Stapenhorst zur besten Nachwuchsspielerin gewählt. Jede, so hofft Mülders, findet immer mehr in ihre eigene Rolle. Die Selbstverwaltung des eigenen Spiels wird immer selbstverständlicher. Probehalber überließ Mülders seinen Spielerinnen die Viertelpausen in Testspielen, er hörte nur noch zu, wie sie sich gegenseitig austauschten und anwiesen, eine Art Auto-Coaching im Zeitraffer, die Viertelpause dauert ja nur zwei Minuten. Und während der Partie geht es genauso weiter, denn die Mannschaft hat zwar in der Münchnerin Hannah Krüger eine offizielle Spielführerin, aber in Verteidigung, Mittelfeld und Angriff weitere Kapitäne.

Das klingt alles ein bisschen wie ein Science-Fiction des Sports. Mülders' Spielerinnen sollen auch außerhalb des Spielfeldes Eigenverantwortung lernen: Vor Rio sind sie für zwei Tage schon mal im Athletendorf gewesen, und dann planmäßig gleich wieder ausgecheckt für ein Trainingslager in Buenos Aires. Warum nicht gleich nach Argentinien? Weil, so Mülders, eine Predigt über die Tücken des Dorf-Trubels nie so gut wirkt wie die eigene Erfahrung. Mit dem Vorabbesuch haben sich die jungen Hockeyspielerinnen selber Gedanken über die Ablenkung gemacht.

Mülders und Altenburg behalten natürlich das letzte Wort, aber wenn sich das Selbst-Coachen bewährt, dann wäre der Ertrag für ihre Hockey-Teams gewaltig. Sie wären flexibler, schneller im Beheben von Fehlern und stärker motiviert. Nun müssen sie es in dem Turnier, auf das sie so lange hingearbeitet haben, nur zeigen, und zwar ganz von alleine.

© SZ vom 05.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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